von Lady Marie
Der Wald. Er glühte in rotem Licht und war trotzdem eiskalt und
unwohnlich. Überall um mich her herrschte Geräusch. Es war ein
unangenehmes, kreischendes Geräusch, das stetig anschwoll. Plötzlich
begann sich alles um mich in Bewegung zu setzen. Wild hechtete an mir
vorüber, ohne mich dabei wahrzunehmen. Vögel flogen erschrocken auf
und flohen gen Himmel. Die Erde schien zu erbeben. Und dann sah ich
es. Nur wenige dutzende Meter vor mir stand der Wald in Flammen. Sie
hatten sich entschieden. Sie wollten ihn niederbrennen, um mich zu
finden, so wie sie vor zehn Monaten unser Haus niedergebrannt hatten,
um uns zu vertreiben.
Entsetzt wandte ich mich um. In meinem Kopf hallte ein Wort wieder:
'Lauf.'
Wer hatte das nochmal zu mir gesagt?
Lauf.
So schnell du kannst.
So weit, wie du es vermagst.
Ein Baum brach um und fiel mir in den Weg. Ich sprang vor der Wucht
seiner Äste zurück. Und da stand sie plötzlich vor mir. Meine
Mutter trug ein weißes Kleid. Das Haar hing ihr offen über die
Schultern, während sie einige Zentimeter über dem Boden schwebte.
Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, doch ihr Blick loderte mehr, als
dass es nur ein Spiegelbild der gefräßigen Flammen hinter mir hätte
sein können. Viel mehr schien sie selbst von innen in Flammen zu
stehen.
Als ihre Stimme erklang, war es nur wie ein Wispern des Windes im
Feuer. 'Lauf, mein Kind. Lauf. Mich haben sie. Aber du musst
leben. Lauf.'
Etwas erschütterte ihre Gestalt und sie riss schmerzverzerrt die
Augen auf. Langsam verzog sich ihr Körper, magerte ab und begann,
sich zu zersetzen. Das Kreischen umher war inzwischen ohrenbetäubend.
'Bleib hier!', wollte ich ihr
zurufen, aber meine Zunge klebte wie festgetackert an meinem Gaumen.
Dann vermischten sich ihre Überreste mit dem Wind. Das Letzte, was
von ihr blieb, war nur ein Flüstern neben meinem Ohr: 'Zeig
ihnen, mit wem sie es zu tun bekommen haben...'
Dann hörte ich die Rufe von fern. „Tilli! Tilli!“
Wieder stürzte ich los. Ich musste entkommen! Ich musste
verschwinden, bevor sie mich einholten, die Rufenden.
„Tilli! Tilli!“
„Tilli. Hey, Tilli.“
Langsam kam ich in die wirkliche Welt zurück.
„Wach auf, Kleine. Du bist dran.“
Ich öffnete die Augen. Beinahe erschrak ich vor der Finsternis.
„Du hast unruhig geschlafen. Hast du geträumt?“
Nun erst begriff ich, wer da zu mir sprach.
Ich setzte mich auf: „Ist in Ordnung. Leg dich schlafen. Ich
übernehme.“
Kurz sah er mich nur an: „Bist du sicher, dass mit dir alles in
Ordnung ist?“
„Ja... ja. Ich... hab nur geträumt. Das ist alles.“
Ein mitfühlendes Lächeln huschte über sein Gesicht: „In den
ersten Monaten ist es am schlimmsten. Am Anfang verschonen einen die
Träume noch. Aber irgendwann fängt es an.“
Ich schwieg.
„Deine... Familie?“, fragte er vorsichtig. Er hatte sich neben
mich gesetzt.
Eigentlich wollte ich nicht darüber reden, aber ich antwortete
trotzdem: „Meine Mutter. Sie haben sie geholt.“
Kurz schwieg auch er.
„Das haben alle“, murmelte er dann, „die Angst um jene, die sie
zurücklassen mussten. Kann einem ganz schön das Hirn zermartern,
was?“
Ich zögerte, dann: „Leg dich ruhig hin. Ich glaub, ich muss eh
etwas nachdenken...“
„In Ordnung“, erwiderte Mocis ruhig, stand auf und rollte sich
etwas von mir entfernt am Feuer in seine Decke ein, „aber mach dir
nicht zu viele Gedanken. Du hast gerade eh keine Handlungsfreiheit.
Viel eher solltest du über deine eigene Situation nachdenken. Du
musst irgendwohin. Wenn du so weitermachst, drehst du nur noch
durch.“
Er zwinkerte mir zu. Wieder einmal musste ich lächeln, aber ich
befürchtete, dass mein Lächeln etwas schief ausfiel. Kurz musterte
er mich noch, dann verschwand Cis unter seiner Decke und schlief ein.
Ich hatte nur geträumt. Das war alles.
Und trotzdem wollte ich mich nicht recht beruhigen. Frierend und
besorgt saß ich da und dachte an mein zu Hause und wartete auf den
Morgen. Irgendetwas wollte mich nicht glauben lassen, dass es
tatsächlich nichts als ein Traum gewesen war.
Die Nacht kann einem so finster vorkommen, wenn man nicht mehr weiß,
wohin man eigentlich gehört. Ich fühlte mich ein wenig wie ein
Kind, das von seinen Eltern einfach irgendwo zurückgelassen worden
war und nun langsam begriff, dass es für sich allein sorgen musste.
Mit meiner Mutter im Hintergrund hatte ich immer jemanden gehabt, der
im Notfall noch wusste, wie es weiterging. Dieser jemand musste ich
nun selbst sein und das Problem dabei war, dass ich die Welt
eigentlich nicht genügend kannte, um das zu schaffen. Aber ich
musste.
Einige Tricks hatte ich ja bereits gelernt. Dinge, die kein normales
Kind wusste. Und auch kein normales junges Mädchen. Mein Leben war
nicht das einfachste gewesen, weshalb ich also vielleicht ein
Sprungbrett in die Organisation meines jetzigen Lebens besaß. Und
trotzdem fehlte mir jemand, der mir ab und zu das Denken aus der Hand
nahm. Verlasse dich auf niemanden, klar. Daran hielt ich mich schon
seit etwa zwanzig Jahren. Aber dennoch hatte ich diesen einen
Menschen gehabt, auf den ich mich trotz allem immer noch verlassen
hatte. Der mich ab und zu bei der Hand genommen und mich
weitergeführt hatte, wenn ich selbst nicht weiterkam.
Wie es ihr wohl ging, meiner Mutter? Was hatte mein Traum mir sagen
wollen? Dass ich sie vermisste? Dass ich um sie fürchtete und um das
Kind in ihrem Bauch? Um meinen Bruder. Für einen Moment packte mich
der Gedanke, und als ich ihn bemerkte, erschrak ich so heftig vor
ihm, dass ich am liebsten sofort zurück gelaufen wäre in die Stadt,
aus der ich kam: Würde ich meine Mutter jemals wiedersehen?
Rasch schüttelte ich das Gedachte ab und lenkte meine Gedanken in
andere Richtungen. Mein Blick streifte den schlafenden Mann. Er
schien überhaupt keine Bedenken dabei zu haben, sich einfach
schlafen zu legen, während ich in der Nähe war. Vielleicht war ich
auch tatsächlich nicht gefährlich für ihn. Die Frage war, ob er es
denn für mich war. Bisher hatte sich nichts dergleichen ergeben und
dennoch hatte ich das Gefühl, dass ich ihm um nichts auf der Welt
meinen Namen verraten sollte. Warum nur? War ich inzwischen paranoid
geworden? Es war gut möglich, aber das unangenehme Gefühl ließ
mich nicht los. Das Gefühl, dass sich eine Katastrophe annahte.
Zwei Stunden später ging die Sonne auf. Cis räkelte sich, gähnte
herzhaft und schlug die Augen auf.
„Guten Morgen, Sonnenschein“, schmunzelte ich, „Hast du mich
absichtlich sechs Stunden durchschlafen lassen?“
Ich fühlte mich wach wie lange nicht und hatte inzwischen begriffen,
woran das lag. Er hatte die ganze Nacht selbst durchwacht und mich
erst gegen sechs aufgeweckt...
Cis blinzelte. „Schon so früh am Morgen Unterstellungen“,
brummte er zerzaust.
Ich hatte die Arme verschränkt: „Hab ich Recht?“
Cis kratzte sich verlegen am Kopf: „Fühlst du dich ausgeruht?“
Ich musste lächeln. „Danke. Dafür, dass du das gesehen hast...“
„Jetzt hör auf“, grinste er, „Es ist mir einfach sicherer,
wenn ich Wache halte.“
Zum Frühstück gab es Brot. Ich hatte keine Ahnung, wo er das
gefunden hatte, aber er beteuerte, er habe es gekauft.
Wir beschlossen, noch ein Stück gemeinsam zu gehen. Mocis wollte mir
eine Straße zeigen, von der aus ich, wenn ich weiter nach Osten
reiste, vielleicht in ein Gebiet gelangen konnte, in dem ich nicht
mehr gesucht würde. Außerdem gab er mir die Adresse eines Mannes,
der falsche Ausweise herstellte.
„Wie hast du um Himmels Willen all diese Leute kennengelernt?“
„Den Himmel gibt es nicht“, erwiderte er.
Ich musste innerlich den Kopf schütteln.
Seine Gegenwart war mir trotz allem angenehm. Gerne wäre ich noch
länger mit ihm gereist, aber so sollte es wohl nicht kommen. Dieses
Mal allerdings war ich selbst daran schuld.
„Es gefällt mir nicht, dass wir so gut miteinander auskommen“,
murmelte er plötzlich.
„Unsere Wege trennen sich eh schon bald“, antwortete ich, die ich
aus irgendeinem Grund seine Sorge nachvollziehen konnte.
„Wenn du nach Schnipp kommst, halte dich nur noch östlich.“
Auch, dass er das Thema wechselte, konnte ich nachvollziehen. „Kurz
vor der polnischen Grenze gibt es ein Lager. Da triffst du Kanir den
Bummler. Wenn du sein Vertrauen gewinnst, bringt er dich zu den
anderen Ausgewiesenen.“
„Und dann?“
„Dann“, er wandte sich im Gehen zu mir um, „Dann musst du
entscheiden, was du willst. Aber erstmal triffst du dort auf
Menschen, die nicht völlig den Verstand verloren haben.“
Kurz herrschte Schweigen.
„Erzähl mir von deiner Mutter“, bat er mich dann.
„Du weißt schon mehr von mir, als ich von dir“, winkte ich ab.
„Was denn zum Beispiel“, schmunzelte er.
„Aus irgendeinem Grund habe ich dir von meiner gesamten Flucht
erzählt...“, erwiderte ich streng.
„Das war unvorsichtig“, gab er zu, „Aber ich weiß immerhin
noch nicht, woher du kommst...“
Schweigend gingen wir weiter.
Die Anhöhe, auf der wir uns verabschieden wollten, kam in Sicht.
„Mein Name ist Rahil“, erklärte er plötzlich.
Ich starrte ihn an. Nach kurzer Stille beschloss ich, dass ich etwas
sagen musste: „Warum...erzählst du mir das?“
Er blieb stehen und wandte sich zu mir um. Auch ich blieb stehen.
„Ich habe nicht die geringste Idee“, behauptete er schmunzelnd,
„Aber mich sucht eh schon die ganze Welt. Und zwar nicht unter
meinem echten Namen.“
Dabei wandte er sich wieder um und ging weiter. Nachdenklich
betrachtete ich ihn. Ich erinnerte mich an meine nächtlichen
Gedanken und Bedenken. Mein Verstand stieß eine gellende Warnung
aus. Doch in diesem Augenblick schob ich ihn beiseite und entschloss
mich fataler Weise dazu, die Warnung zu ignorieren.
Meine Zunge löste sich von selbst: „Ich komme aus Rapstin.“
Mocis blieb stehen. Und überrascht tat ich es ihm gleich.
Misstrauisch beobachtete ich ihn. Was war jetzt los?
Er wandte sich nicht um. Wieder entstand ein Moment des Schweigens.
Doch dieser war anders. Er schwang vor Verhängnis in der Luft, dass
ich beinahe davor zurückgewichen wäre.
„Felis.“
Endlich hörte ich wieder auf meinen Verstand und blieb stehen, wo
ich stand.
Was hatte er gerade gesagt?
Langsam wandte Mocis sich zu mir um. „Felis Senti“, murmelte er.
Ich wurde blass. Sein Blick huschte über meine Züge, war plötzlich
so kalt und berechnend: „Das ist dein Name, richtig?“
Um uns breitete sich beißende Kälte aus. Ich sah ihn wieder an und
fand nichts mehr von dem Typen, den ich am Vortag zufällig
kennengelernt hatte.
„Woher“, raunte ich dennoch wachsam und misstrauisch, „kennst
du meinen Namen?“
Ich hörte ich ihn leise fluchen, während er den Blick abwandte. Er
wich einen Schritt zurück, sah mich wieder an: „Ich habe mich
schon die ganze Zeit über gewundert, woher du mir so bekannt
vorgekommen bist...“ Und plötzlich hatte er seine Waffe gezogen.
Ein erprobt überlegenes Lächeln trat auf sein Gesicht, als er die
Waffe auf mich richtete: „An deiner Stelle würde ich jetzt
laufen.“
Entsetzt starrte ich ihn an. Mein Herz machte unregelmäßige
Aussetzer. Was?
Sein Blick wurde nachdrücklich: „Nimm dir nicht zu viel Zeit zum
nachdenken. Sonst hast du am Ende keine mehr...3...“
Meine Füße klebten am Boden. Das konnte doch nicht wahr sein!
„...2...“
Mein Blick wurde düster, doch ich befürchtete, dass Enttäuschung
darin mitschwang.
Noch während ich ihn verständnislos anstarrte, flackerte kurz ein
Fünkchen Bedauern in seinem Blick. Schließlich wandte ich mich um
und verschwand im Wald. Schon nach wenigen Metern wusste ich, dass er
mir nicht folgte. Aber ich konnte nicht mehr anhalten. Entsetzen und
Zorn trieben mich fort. So weit fort wie möglich. Nur weiter. Immer
weiter. Weit weg.
Zwei Tage später hatte ich mich endgültig abgekühlt und war in der
Lage, meine Situation angemessen zu reflektieren:
Ich war noch immer allein. Ich wusste nicht, wie man stahl, ich hatte
noch nie ernsthaft gegen einen Menschen gekämpft, ich beherrschte
keine Verwandlungskünste, konnte mich auch anderweitig nicht
sonderlich gut verstecken. Noch dazu war ich krank und nicht
übermäßig athletisch. Wie sollte ich denn lang genug allein
überleben, um ein Ziel zu verfolgen, dessen ich mir noch dazu nicht
einmal sicher war?
Der Zusammenstoß mit dem Fremden hatte mich schwer enttäuscht.
Natürlich hatte ich ihm in gewisser Weise von Anfang an misstraut.
Andererseits aber hatte mir seine Gegenwart gefallen und sein
Verhalten am Ende hatte mich erschreckt. Nun fragte ich mich, in
welchem Zusammenhang er in die Geschichte passte. Warum hatte er eine
Waffe auf mich richten müssen, als er meinen Namen erfuhr? Und warum
hatte er nur aus der Angabe meines Herkunftsortes meinen Namen
herausfinden können? Hatte er nach mir gesucht? Hatte man ihm
geraten, mich zu meiden? Was hatte er mit mir zu tun?
Und warum hatte er mir seinen Namen verraten (wenn es denn sein Name
war)? Hatte er darauf spekuliert, mir durch diese Aktion etwas über
mich selbst entlocken zu können, weil ich ihm nun mal, wie er selbst
es beteuert hatte, bekannt vorgekommen war...? Wenn er aber von
vornherein nur getrickst hätte, dann hätte er am Ende keine Reue
für sein verändertes Verhalten gezeigt. Rahil.
Die Orte, die er mir empfohlen hatte, würde ich zumindest nicht
sofort aufsuchen. Ich musste mir eine andere Lösung einfallen
lassen.
Also setzte ich meinen Weg weiter nach Nordosten fort. Inzwischen
hatte ich mir ein vorläufiges Ziel gesetzt. Es gab eine Kleinstadt
etwa zwei Tagesmärsche von meinem derzeitigen Standpunkt entfernt.
Dort wollte ich mich hineinschleichen. Irgendwie hatte ich das
Gefühl, dass ich mich darin üben musste, unbemerkt unter Menschen
zu gehen. Und ich hatte noch etwas Geld, mittels dessen ich mir Brot
und Früchte kaufen konnte. Vielleicht bräuchte ich auch eine andere
Waffe. Mit einem Messer allein war es schwierig zu jagen und sich zu
verteidigen. Gegen Abend würde ich die Stadt wieder verlassen
müssen. Dennoch aber wollte ich zumindest versuchen, einmal bei Tag
durch die Straßen zu gehen. Vielleicht konnte ich mich ja unter den
Menschen etwas umsehen und umhören und dabei ein paar Pläne
entwickeln. Ich wusste, dass es andere geben musste wie mich. Ich
musste sie nur finden. Und trotz des vorangegangenen Rückschlags war
ich in diesem Moment so entschlossen wie nie, dass ich mich
irgendeiner Gruppe anschließen würde. Ich würde ihnen schon
zeigen, mit wem sie es zu tun bekommen hatten, selbst wenn es riskant
war!