MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Mittwoch, 27. Juni 2012

4. Der Ewige Kreis (09.10. - 11.10.2133)


von Lady Marie


Der Wald. Er glühte in rotem Licht und war trotzdem eiskalt und unwohnlich. Überall um mich her herrschte Geräusch. Es war ein unangenehmes, kreischendes Geräusch, das stetig anschwoll. Plötzlich begann sich alles um mich in Bewegung zu setzen. Wild hechtete an mir vorüber, ohne mich dabei wahrzunehmen. Vögel flogen erschrocken auf und flohen gen Himmel. Die Erde schien zu erbeben. Und dann sah ich es. Nur wenige dutzende Meter vor mir stand der Wald in Flammen. Sie hatten sich entschieden. Sie wollten ihn niederbrennen, um mich zu finden, so wie sie vor zehn Monaten unser Haus niedergebrannt hatten, um uns zu vertreiben.
Entsetzt wandte ich mich um. In meinem Kopf hallte ein Wort wieder: 'Lauf.'
Wer hatte das nochmal zu mir gesagt?
Lauf.
So schnell du kannst.
So weit, wie du es vermagst.
Ein Baum brach um und fiel mir in den Weg. Ich sprang vor der Wucht seiner Äste zurück. Und da stand sie plötzlich vor mir. Meine Mutter trug ein weißes Kleid. Das Haar hing ihr offen über die Schultern, während sie einige Zentimeter über dem Boden schwebte. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, doch ihr Blick loderte mehr, als dass es nur ein Spiegelbild der gefräßigen Flammen hinter mir hätte sein können. Viel mehr schien sie selbst von innen in Flammen zu stehen.
Als ihre Stimme erklang, war es nur wie ein Wispern des Windes im Feuer. 'Lauf, mein Kind. Lauf. Mich haben sie. Aber du musst leben. Lauf.'
Etwas erschütterte ihre Gestalt und sie riss schmerzverzerrt die Augen auf. Langsam verzog sich ihr Körper, magerte ab und begann, sich zu zersetzen. Das Kreischen umher war inzwischen ohrenbetäubend.
'Bleib hier!', wollte ich ihr zurufen, aber meine Zunge klebte wie festgetackert an meinem Gaumen. Dann vermischten sich ihre Überreste mit dem Wind. Das Letzte, was von ihr blieb, war nur ein Flüstern neben meinem Ohr: 'Zeig ihnen, mit wem sie es zu tun bekommen haben...'
Dann hörte ich die Rufe von fern. „Tilli! Tilli!“
Wieder stürzte ich los. Ich musste entkommen! Ich musste verschwinden, bevor sie mich einholten, die Rufenden.
Tilli! Tilli!“

„Tilli. Hey, Tilli.“
Langsam kam ich in die wirkliche Welt zurück.
„Wach auf, Kleine. Du bist dran.“
Ich öffnete die Augen. Beinahe erschrak ich vor der Finsternis.
„Du hast unruhig geschlafen. Hast du geträumt?“
Nun erst begriff ich, wer da zu mir sprach.
Ich setzte mich auf: „Ist in Ordnung. Leg dich schlafen. Ich übernehme.“
Kurz sah er mich nur an: „Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“
„Ja... ja. Ich... hab nur geträumt. Das ist alles.“
Ein mitfühlendes Lächeln huschte über sein Gesicht: „In den ersten Monaten ist es am schlimmsten. Am Anfang verschonen einen die Träume noch. Aber irgendwann fängt es an.“
Ich schwieg.
„Deine... Familie?“, fragte er vorsichtig. Er hatte sich neben mich gesetzt.
Eigentlich wollte ich nicht darüber reden, aber ich antwortete trotzdem: „Meine Mutter. Sie haben sie geholt.“
Kurz schwieg auch er.
„Das haben alle“, murmelte er dann, „die Angst um jene, die sie zurücklassen mussten. Kann einem ganz schön das Hirn zermartern, was?“
Ich zögerte, dann: „Leg dich ruhig hin. Ich glaub, ich muss eh etwas nachdenken...“
„In Ordnung“, erwiderte Mocis ruhig, stand auf und rollte sich etwas von mir entfernt am Feuer in seine Decke ein, „aber mach dir nicht zu viele Gedanken. Du hast gerade eh keine Handlungsfreiheit. Viel eher solltest du über deine eigene Situation nachdenken. Du musst irgendwohin. Wenn du so weitermachst, drehst du nur noch durch.“
Er zwinkerte mir zu. Wieder einmal musste ich lächeln, aber ich befürchtete, dass mein Lächeln etwas schief ausfiel. Kurz musterte er mich noch, dann verschwand Cis unter seiner Decke und schlief ein.
Ich hatte nur geträumt. Das war alles.
Und trotzdem wollte ich mich nicht recht beruhigen. Frierend und besorgt saß ich da und dachte an mein zu Hause und wartete auf den Morgen. Irgendetwas wollte mich nicht glauben lassen, dass es tatsächlich nichts als ein Traum gewesen war.

Die Nacht kann einem so finster vorkommen, wenn man nicht mehr weiß, wohin man eigentlich gehört. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Kind, das von seinen Eltern einfach irgendwo zurückgelassen worden war und nun langsam begriff, dass es für sich allein sorgen musste. Mit meiner Mutter im Hintergrund hatte ich immer jemanden gehabt, der im Notfall noch wusste, wie es weiterging. Dieser jemand musste ich nun selbst sein und das Problem dabei war, dass ich die Welt eigentlich nicht genügend kannte, um das zu schaffen. Aber ich musste.
Einige Tricks hatte ich ja bereits gelernt. Dinge, die kein normales Kind wusste. Und auch kein normales junges Mädchen. Mein Leben war nicht das einfachste gewesen, weshalb ich also vielleicht ein Sprungbrett in die Organisation meines jetzigen Lebens besaß. Und trotzdem fehlte mir jemand, der mir ab und zu das Denken aus der Hand nahm. Verlasse dich auf niemanden, klar. Daran hielt ich mich schon seit etwa zwanzig Jahren. Aber dennoch hatte ich diesen einen Menschen gehabt, auf den ich mich trotz allem immer noch verlassen hatte. Der mich ab und zu bei der Hand genommen und mich weitergeführt hatte, wenn ich selbst nicht weiterkam.
Wie es ihr wohl ging, meiner Mutter? Was hatte mein Traum mir sagen wollen? Dass ich sie vermisste? Dass ich um sie fürchtete und um das Kind in ihrem Bauch? Um meinen Bruder. Für einen Moment packte mich der Gedanke, und als ich ihn bemerkte, erschrak ich so heftig vor ihm, dass ich am liebsten sofort zurück gelaufen wäre in die Stadt, aus der ich kam: Würde ich meine Mutter jemals wiedersehen?
Rasch schüttelte ich das Gedachte ab und lenkte meine Gedanken in andere Richtungen. Mein Blick streifte den schlafenden Mann. Er schien überhaupt keine Bedenken dabei zu haben, sich einfach schlafen zu legen, während ich in der Nähe war. Vielleicht war ich auch tatsächlich nicht gefährlich für ihn. Die Frage war, ob er es denn für mich war. Bisher hatte sich nichts dergleichen ergeben und dennoch hatte ich das Gefühl, dass ich ihm um nichts auf der Welt meinen Namen verraten sollte. Warum nur? War ich inzwischen paranoid geworden? Es war gut möglich, aber das unangenehme Gefühl ließ mich nicht los. Das Gefühl, dass sich eine Katastrophe annahte.

Zwei Stunden später ging die Sonne auf. Cis räkelte sich, gähnte herzhaft und schlug die Augen auf.
„Guten Morgen, Sonnenschein“, schmunzelte ich, „Hast du mich absichtlich sechs Stunden durchschlafen lassen?“
Ich fühlte mich wach wie lange nicht und hatte inzwischen begriffen, woran das lag. Er hatte die ganze Nacht selbst durchwacht und mich erst gegen sechs aufgeweckt...
Cis blinzelte. „Schon so früh am Morgen Unterstellungen“, brummte er zerzaust.
Ich hatte die Arme verschränkt: „Hab ich Recht?“
Cis kratzte sich verlegen am Kopf: „Fühlst du dich ausgeruht?“
Ich musste lächeln. „Danke. Dafür, dass du das gesehen hast...“
„Jetzt hör auf“, grinste er, „Es ist mir einfach sicherer, wenn ich Wache halte.“
Zum Frühstück gab es Brot. Ich hatte keine Ahnung, wo er das gefunden hatte, aber er beteuerte, er habe es gekauft.
Wir beschlossen, noch ein Stück gemeinsam zu gehen. Mocis wollte mir eine Straße zeigen, von der aus ich, wenn ich weiter nach Osten reiste, vielleicht in ein Gebiet gelangen konnte, in dem ich nicht mehr gesucht würde. Außerdem gab er mir die Adresse eines Mannes, der falsche Ausweise herstellte.
„Wie hast du um Himmels Willen all diese Leute kennengelernt?“
„Den Himmel gibt es nicht“, erwiderte er.
Ich musste innerlich den Kopf schütteln.
Seine Gegenwart war mir trotz allem angenehm. Gerne wäre ich noch länger mit ihm gereist, aber so sollte es wohl nicht kommen. Dieses Mal allerdings war ich selbst daran schuld.
„Es gefällt mir nicht, dass wir so gut miteinander auskommen“, murmelte er plötzlich.
„Unsere Wege trennen sich eh schon bald“, antwortete ich, die ich aus irgendeinem Grund seine Sorge nachvollziehen konnte.
„Wenn du nach Schnipp kommst, halte dich nur noch östlich.“ Auch, dass er das Thema wechselte, konnte ich nachvollziehen. „Kurz vor der polnischen Grenze gibt es ein Lager. Da triffst du Kanir den Bummler. Wenn du sein Vertrauen gewinnst, bringt er dich zu den anderen Ausgewiesenen.“
„Und dann?“
„Dann“, er wandte sich im Gehen zu mir um, „Dann musst du entscheiden, was du willst. Aber erstmal triffst du dort auf Menschen, die nicht völlig den Verstand verloren haben.“
Kurz herrschte Schweigen.
„Erzähl mir von deiner Mutter“, bat er mich dann.
„Du weißt schon mehr von mir, als ich von dir“, winkte ich ab.
„Was denn zum Beispiel“, schmunzelte er.
„Aus irgendeinem Grund habe ich dir von meiner gesamten Flucht erzählt...“, erwiderte ich streng.
„Das war unvorsichtig“, gab er zu, „Aber ich weiß immerhin noch nicht, woher du kommst...“
Schweigend gingen wir weiter.
Die Anhöhe, auf der wir uns verabschieden wollten, kam in Sicht.
„Mein Name ist Rahil“, erklärte er plötzlich.
Ich starrte ihn an. Nach kurzer Stille beschloss ich, dass ich etwas sagen musste: „Warum...erzählst du mir das?“
Er blieb stehen und wandte sich zu mir um. Auch ich blieb stehen.
„Ich habe nicht die geringste Idee“, behauptete er schmunzelnd, „Aber mich sucht eh schon die ganze Welt. Und zwar nicht unter meinem echten Namen.“
Dabei wandte er sich wieder um und ging weiter. Nachdenklich betrachtete ich ihn. Ich erinnerte mich an meine nächtlichen Gedanken und Bedenken. Mein Verstand stieß eine gellende Warnung aus. Doch in diesem Augenblick schob ich ihn beiseite und entschloss mich fataler Weise dazu, die Warnung zu ignorieren.
Meine Zunge löste sich von selbst: „Ich komme aus Rapstin.“
Mocis blieb stehen. Und überrascht tat ich es ihm gleich. Misstrauisch beobachtete ich ihn. Was war jetzt los?
Er wandte sich nicht um. Wieder entstand ein Moment des Schweigens. Doch dieser war anders. Er schwang vor Verhängnis in der Luft, dass ich beinahe davor zurückgewichen wäre.
„Felis.“
Endlich hörte ich wieder auf meinen Verstand und blieb stehen, wo ich stand.
Was hatte er gerade gesagt?
Langsam wandte Mocis sich zu mir um. „Felis Senti“, murmelte er.
Ich wurde blass. Sein Blick huschte über meine Züge, war plötzlich so kalt und berechnend: „Das ist dein Name, richtig?“
Um uns breitete sich beißende Kälte aus. Ich sah ihn wieder an und fand nichts mehr von dem Typen, den ich am Vortag zufällig kennengelernt hatte.
„Woher“, raunte ich dennoch wachsam und misstrauisch, „kennst du meinen Namen?“
Ich hörte ich ihn leise fluchen, während er den Blick abwandte. Er wich einen Schritt zurück, sah mich wieder an: „Ich habe mich schon die ganze Zeit über gewundert, woher du mir so bekannt vorgekommen bist...“ Und plötzlich hatte er seine Waffe gezogen. Ein erprobt überlegenes Lächeln trat auf sein Gesicht, als er die Waffe auf mich richtete: „An deiner Stelle würde ich jetzt laufen.“
Entsetzt starrte ich ihn an. Mein Herz machte unregelmäßige Aussetzer. Was?
Sein Blick wurde nachdrücklich: „Nimm dir nicht zu viel Zeit zum nachdenken. Sonst hast du am Ende keine mehr...3...“
Meine Füße klebten am Boden. Das konnte doch nicht wahr sein!
„...2...“
Mein Blick wurde düster, doch ich befürchtete, dass Enttäuschung darin mitschwang.
Noch während ich ihn verständnislos anstarrte, flackerte kurz ein Fünkchen Bedauern in seinem Blick. Schließlich wandte ich mich um und verschwand im Wald. Schon nach wenigen Metern wusste ich, dass er mir nicht folgte. Aber ich konnte nicht mehr anhalten. Entsetzen und Zorn trieben mich fort. So weit fort wie möglich. Nur weiter. Immer weiter. Weit weg.

Zwei Tage später hatte ich mich endgültig abgekühlt und war in der Lage, meine Situation angemessen zu reflektieren:
Ich war noch immer allein. Ich wusste nicht, wie man stahl, ich hatte noch nie ernsthaft gegen einen Menschen gekämpft, ich beherrschte keine Verwandlungskünste, konnte mich auch anderweitig nicht sonderlich gut verstecken. Noch dazu war ich krank und nicht übermäßig athletisch. Wie sollte ich denn lang genug allein überleben, um ein Ziel zu verfolgen, dessen ich mir noch dazu nicht einmal sicher war?
Der Zusammenstoß mit dem Fremden hatte mich schwer enttäuscht. Natürlich hatte ich ihm in gewisser Weise von Anfang an misstraut. Andererseits aber hatte mir seine Gegenwart gefallen und sein Verhalten am Ende hatte mich erschreckt. Nun fragte ich mich, in welchem Zusammenhang er in die Geschichte passte. Warum hatte er eine Waffe auf mich richten müssen, als er meinen Namen erfuhr? Und warum hatte er nur aus der Angabe meines Herkunftsortes meinen Namen herausfinden können? Hatte er nach mir gesucht? Hatte man ihm geraten, mich zu meiden? Was hatte er mit mir zu tun?
Und warum hatte er mir seinen Namen verraten (wenn es denn sein Name war)? Hatte er darauf spekuliert, mir durch diese Aktion etwas über mich selbst entlocken zu können, weil ich ihm nun mal, wie er selbst es beteuert hatte, bekannt vorgekommen war...? Wenn er aber von vornherein nur getrickst hätte, dann hätte er am Ende keine Reue für sein verändertes Verhalten gezeigt. Rahil.
Die Orte, die er mir empfohlen hatte, würde ich zumindest nicht sofort aufsuchen. Ich musste mir eine andere Lösung einfallen lassen.
Also setzte ich meinen Weg weiter nach Nordosten fort. Inzwischen hatte ich mir ein vorläufiges Ziel gesetzt. Es gab eine Kleinstadt etwa zwei Tagesmärsche von meinem derzeitigen Standpunkt entfernt. Dort wollte ich mich hineinschleichen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich darin üben musste, unbemerkt unter Menschen zu gehen. Und ich hatte noch etwas Geld, mittels dessen ich mir Brot und Früchte kaufen konnte. Vielleicht bräuchte ich auch eine andere Waffe. Mit einem Messer allein war es schwierig zu jagen und sich zu verteidigen. Gegen Abend würde ich die Stadt wieder verlassen müssen. Dennoch aber wollte ich zumindest versuchen, einmal bei Tag durch die Straßen zu gehen. Vielleicht konnte ich mich ja unter den Menschen etwas umsehen und umhören und dabei ein paar Pläne entwickeln. Ich wusste, dass es andere geben musste wie mich. Ich musste sie nur finden. Und trotz des vorangegangenen Rückschlags war ich in diesem Moment so entschlossen wie nie, dass ich mich irgendeiner Gruppe anschließen würde. Ich würde ihnen schon zeigen, mit wem sie es zu tun bekommen hatten, selbst wenn es riskant war!

Sonntag, 24. Juni 2012

Die Suche nach gestern


von Sir John

Als ich letzten Mittwoch früh um neun aufwachte, hatte ich den Dienstag vergessen.
Nein, nicht einzelne Episoden eines ereignisreichen Tages. Es war auch keine morgendliche Müdigkeit, die mir die Erinnerung verwehrte. Ich hatte nicht einmal einen Kater, der vielleicht Antwort genug auf die Frage gewesen wäre, warum ich mich an nichts erinnerte. Vielmehr hatte ich das Gefühl, der Dienstag habe nie stattgefunden.
An den Montag erinnerte ich mich noch sehr gut. Da war ich wie üblich ins Büro gegangen, hatte um die Mittagszeit ausnahmsweise einmal der Kantine einen Besuch abgestattet, weil der Bäcker gegenüber, bei dem ich mir sonst mein Mittagessen zu holen pflege, aus unerfindlichen Gründen geschlossen hatte und war abends noch mit einigen Freunden gemütlich in der Kneipe gewesen. Natürlich nicht lange, ich musste schließlich am nächsten Tag wieder ins Büro, aber da fängt es schon an: Ich konnte mich genau an die Überlegung erinnern, daran, mit Bedacht auf meine dienstäglichen Aufgaben schon um halb elf den Heimweg angetreten zu haben.
Daran, den guten Vorsatz, dienstags pünktlich und ausgeschlafen im Büro zu erscheinen, wie geplant umgesetzt zu haben entsann ich mich hingegen ebensowenig wie eines halb verschlafenen Tages oder eines Spontantrips nach Brasilien. Ich hatte also komplett die Erinnerung verloren.

Ein haarsträubendes Erlebnis, fürwahr. Nicht, dass mir die Erinnerung besonders fehlte. Schließlich hatte ich nicht die geringste Vorstellung, was mir entging. Insofern hätte ich einfach weitermachen können, als sei nichts gewesen. Es handelte sich ja auch nur um einen von mehreren hundert Dienstagen meines bisherigen Lebens, kein Grund sich aufzuregen sollte man meinen, besonders, da Dienstage nicht gerade für Kummulationen außergewöhnlicher Ereignisse bekannt sind.
Bei mir lag der Fall jedoch anders. Es hatte mindestens ein außergewöhnliches Ereignis an diesem Dienstag stattgefunden nämlich, dass ich denselben vergessen hatte. Folglich handelte es sich nicht um einen ereignislosen Dienstag, was die Frage aufwirft: Wäre er ereignislos gewesen, wenn ich ihn nicht vergessen hätte? Mit anderen Worten, wenn ich meine Erinnerung wiederfände, würde ich mich dann an einen ereignislosen Dienstag erinnern, weil ich das einzig spannende Geschehnis des Tages durch das zurückerlangen meiner Erinnerung zunichte gemacht hätte?
Ich hatte also die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder ich würde nicht versuchen, mich zu erinnern. In diesem Fall hätte ich den Verlust eines möglicherweise amüsanten, wenn nicht sogar spannenden, vielleicht aber auch einfach stinknormalen Tages zu beklagen gehabt. Die zweite Möglichkeit war, mich auf die Suche nach Anhaltspunkten zu begeben, um meinen verlorenen Dienstag zurückzugewinnen. Das würde Zeit und Energie kosten und einen Erfolg möglich, jedoch nicht sicher machen.
Es gab aber noch einen Faktor, der meine Entscheidung maßgeblich beeinflusste. Ich fühlte, dass mein Leben diesen Dienstag brauchte. Was wäre es ohne ihn? Wie konnte ich einen Mittwoch erleben, ohne zuvor den Dienstag erlebt zu haben? Bauten nicht alle folgenden Tage darauf auf? Das Leben, so wurde mir klar, ist wie ein Hochhaus, das immer weiter gebaut wird, Stockwerk für Stockwerk. Wenn nun der zwölfte Stock fehlt kann man keinen dreizehnten darüber bauen. Der zwölfte Stock spielt wie der x-te Dienstag meines Lebens eine tragende Rolle für alles, was danach kommt.
So entschied ich mich also für die Suche. „Neulich habe ich meinen Schlüssel verloren, um ihn dann völlig überraschend in einem meiner Winterschuhe wiederzufinden“, dachte ich mir, „wahrscheinlich liegt auch mein Dienstag noch in irgendeiner Ecke herum.“ Mit diesem ermutigenden Gedanken machte ich mich auf den Weg.

Wochentage aufzustöbern ist gar nicht so leicht. Man ahnt ja nicht, wie gut die sich verstecken. Am meisten machte mir zu schaffen, dass ich, weil mir ja jede Erinnerung an ihn fehlte, nicht einmal wusste, wie mein gesuchter Dienstag aussieht. Ich hatte keine Ahnung wie groß er ist, ob er Kleidung trägt und wenn ja, welche, welche Hautfarbe er hat (wenn freilaufende Dienstage über soetwas wie Haut verfügen) oder wo er sich am liebsten aufhält. Ich hatte kein Foto, das ich den Leuten hätte zeigen und keinen Namen, nach dem ich sie hätte fragen können. Ich probierte es ein paar Mal mit „Haben sie einen Dienstag gesehen?“, aber das hatten sie natürlich alle schon, und wer nicht, konnte mir noch nicht davon erzählen. Außerdem suchte ich ja nicht nach jemandem, der noch keinen, sondern nach jemandem, der schon einen und zwar einen ganz bestimmten Dienstag hatte vorübergehen sehen. Nach einer halben Stunde der Suche, in der ich gefühlte 200 Variationen der einfachen Antwort „nein“ kennengelernt hatte, machte sich Mutlosigkeit breit. Ich setzte mich auf den Bordstein und hing trüben Gedanken nach. Es war ja auch eine völlig aussichtslose Suche, auf die ich mich da begeben hatte. Einen bestimmten Dienstag inmitten der Masse aller möglicher Wochentage ausfindig zu machen (ganz zu schweigen von den ganzen Dingen, die es außer Wochentagen noch gab) war ähnlich wahrscheinlich wie...mir fiel kein passender Vergleich ein, was mir erneut Gelegenheit zu ausgiebigem Fluchen verschaffte.
„Ich glaube, ich kann ihnen helfen.“
Die stimme ertönte dicht neben meinem rechten Ohr. Ich fuhr herum. Tatsächlich, da saß jemand. Ein ziemlich magerer Herr mit Spitzbart sah mich lächelnd an.
„Sie sind doch der Herr, der seinen Mittwoch verloren hat.“
„Meinen Dienstag“, antwortete ich, „Woher wissen Sie das?“
„Die Dame dort drüben erzählte mir von Ihrem Kummer.“ berichtete mir mein neuer Bekannter. „Nun denn, ich habe etwas in der Art gesehen. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber es könnte durchaus ein Wochentag gewesen sein. Keiner von diesen aufgeblasenen Sonntagen, er ging gebückt und schien nicht auffallen zu wollen. Sein Ziel schien der Markt zu sein.“
„Vielen Dank!“
Verblüffung und Freude mischten sich auf eine herzschlagbeschleunigende Art. Ich hatte eine Spur! Nichts wie los!

Der Markt. Es gab kaum einen Ort, der mehr Menschen beherbergte. Überall drängelten sie sich, redeten, lachten und versuchten auf jede erdenkliche Art, einem die Zivilisation auszutreiben. Wenn mein Dienstag hierher gekommen war, musste ihn jemand gesehen haben!
Und richtig. Schon der erste Händler, den ich ansprach, es war ein Gemüseverkäufer mit beachtlichem Grinsen und ebensolchem Leibesumfang, versicherte mir, mein Dienstag sei vor Kurzem erst hier vorbeigekommen.
„Ein kleiner, gebückter Wochentag? Klar hab ich den gesehen! Der ging schnurstracks in die ‚Schneiderei Gutzke‘, musste sich wohl mal wieder einen Kalender auf den Leib schneidern lassen“
Obwohl ich die Bemerkung mit dem Kalender nicht ganz verstand und mir sein Grinsen sowie seine übertrieben selbstverständliche Redeweise Unbehagen einflößten bedankte ich mich höflich und machte mich auf den Weg zu besagter Schneiderei, die in Sichtweite des Gemüsestandes am Rand des Parktplatzes lag.

Eine Glocke klingelte, als ich die Tür öffnete. Drinnen erwartete mich ein staubiger, holzgetäfelter Raum. Die Gardinen sowie verschiedene Einrichtungsgegenstände ließen vermuten, das die Inhaberin ein längst vergangenes Jahrhundert bewohnte, welchem sie allerdings selten Pflege in Form eines nassen Lappens zuteil werden ließ.
„Frau Gutzke?“
Ich tastete mich langsam in den nächsten Raum vor. Auch hier alles voller Staub. Allerdings verschwanden große Teile der Wände hinter riesigen Stoffballen und Stapeln fertiger Kleidungsstücke. Nach einigen Schritten blieb ich stehen. Die gespenstische Atmosphäre ließ mich verzagt innehalten.
„Frau Gutzke?“ versuchte ich es nochmal mit ersterbender Stimme.
„Ja doch!“
Das zweite Mal an diesem Tage wurde ich von einer Seite angesprochen, von der ich im Moment gar nichts erwartet hätte, diesmal jedoch mit einer deutlich mürrischeren Stimme als das erste Mal. Meine Reaktion blieb jedoch nahezu die Gleiche. Ich wirbelte herum, als hätte mich die Schneiderin mit einer ihrer Nadeln ins Gesäß gepiekt. Da stand sie in der Tür, durch die ich den Raum soeben betreten hatte, und sah mich nicht eben freundlich an. Dann schlurfte sie durch das Zimmer und ließ sich auf einem altmodischen Sessel nieder.
„Was wollen Sie?“
Ich erwachte aus meiner Starre und beeilte mich, der alten Dame den Grund meiner Anwesenheit zu schildern.
Als ich fertig war, sagte sie eine ganze Weile lang nichts. Eine beunruhigend lange Weile. Wenn eine 92-jährige mitten in einem Gespräch abbricht, bei welchem man mit ihr allein im Raum ist, so fühlt man sich plötzlich mit der Vorstellung konfrontiert, was im Falle ihres plötzlichen Ablebens geschähe, wie viel Schuld der einzige Zeuge zugeschustert bekäme (Es entspricht nicht der Natur solcher Überlegungen, logisch zu sein) und was die Nachbarn über ihn sagen würden. Erst dann fällt einem ein, dass die betagte Dame auch einfach eingeschlafen sein könnte.
Ich war also auf halbem Wege, um ihren Puls zu fühlen, als ihre erstaunlich wache Stimme wieder zu sprechen begann.
„Ich habe so viele Tage kennengelernt. So viele sind an mir vorübergezogen, dass ich sie gar nicht mehr zählen kann. Einige müssen auch Dienstage gewesen sein, jaja...“
Dann schwieg sie wieder für die Zeit, die ich brauchte, um das Alphabet rückwärts bis zum Buchstaben „P“ auswendig zu lernen. Als sie wieder sprach hatte ihre Stimme einen erschöpften Klang.
„Nie haben sie etwas gekauft. Der letzte Dienstag, der hier war, bildet da keine Ausnahme. Er ist schon wieder verschwunden. Aber er kann noch nicht weit sein.“
Noch nicht weit? Dann durfte ich keine Zeit mehr vertrödeln! Ich verabschiedete mich rasch und verließ das Haus. Draußen sah ich mich um. Wo konnte mein Dienstag hingegangen sein? Bestimmt hatte ihn jemand aus dem Laden kommen sehen! Ich hielt auf eine kleine Gruppe von Menschen zu, die ins Gespräch vertieft dastanden.

Dieses Mal war mir kein so schneller Erfolg beschieden wie noch bei dem Gemüsehändler. Ich verbrachte einige Zeit damit, verschiedene Leute zu befragen, bevor mich der Argwohn ereilte, keiner der Leute, die noch vor dem Laden standen habe meinen Dienstag gesehen.
Ich dachte nach. Konnte ich überhaupt sicher sein, dass der gesuchte Tag gerade erst hier vorbeigekommen war? Schließlich brauchte die Dame, die mir den letzten Hinweis gegeben hatte selbst eine beträchtliche Zeitspanne, um einige wenige nicht sonderlich komplizierte Sätze herauszubringen. Außerdem konnte ich mir gut vorstellen, dass sie selbst „noch nicht weit sein“ würde, selbst wenn man ihr eine Woche gäbe, um wegzulaufen. Wenn sie ihre eigene Laufgeschwindigkeit als Maßstab nahm war mein Dienstag über alle Berge.
Ich seufzte. Das war nun das Ende meiner Suche. Niedergeschlagen machte ich mich auf den Weg zu meiner Schwester, um mich von ihr aufbauen zu lassen. Eine typisch schwesterliche Aufgabe, außerdem wohnte sie gleich um die Ecke.

Mit Schwestern ist das so eine Sache. Manchmal sind sie die tröstende Besorgnis selbst, wenn einem kaum etwas fehlt. In Situationen, in denen es einem wirklich schlecht geht, schaffen sie es allerdings mitunter, eine verblüffende Unbeschwertheit an den Tag zu legen.
Meine Schwester lachte.
Ich hatte ihr eben die ganze Geschichte meines Unglücks geschildert, da lachte sie schallend los. Bestürzt ob dieser unpassenden Reaktion brachte ich schließlich die Frage heraus, was denn so komisch sei (beleidigter Ton, durch die Nase gesprochen, wenn ihr versteht, was ich meine)?
„Ach, Brüderchen“, rief sie, „die haben dich nach Strich und Faden verarscht!“
Raffinesse im Ausdruck war noch nie eine ihrer Stärken, aber sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Das musste ich einsehen, als sie mir folgendes darlegte:

Der Mann mit dem Spitzbart hatte von meiner ungewöhnlichen Suche gehört. Er wollte sich einen Scherz auf meine Kosten erlauben und schickte mich absichtlich in die Irre.
Der Gemüsehändler auf dem Markt hielt das Ganze für einen Scherz meinerseits und hatte genügend Humor, mitzumachen. (Jetzt wurde mir der Grund seines ständigen Grinsens und der Sinn seiner kryptischen Bemerkung klar. Späte Erkenntnis...)
Die alte Frau Gutzke schließlich war völlig verwirrt. Sie erzählte einfach Dinge, die ihr zu dem Stichwort „Dienstag“ einfielen. Zufälligerweise konnte man diese Bemerkungen mit etwas Mühe als Antwort auf meine Frage interpretieren, was ich auch bereitwillig getan hatte. Nicht zu fassen!
Ganz im Gegensatz zu meiner Schwester, die sich königlich amüsierte, war mir gar nicht nach lachen zumute. Ich war den ganzen Tag lang einer falschen Fährte hinterhergerannt! Was für eine Verschwendung.
Allmählich wurde auch die Tochter meiner Mutter gewahr, dass es mit meiner Laune nicht zum Besten stand.
„Komm schon, reg dich nicht auf“, versuchte sie mich zu trösten, „es ist nur ein ganz gewöhnlicher blöder Dienstag. Du hast doch schon dutzende davon erlebt, auf den einen kommt es nun wirklich nicht an.“
Als sie merkte, dass mich diese Argumente kaum aufheiterten versank sie in Schweigen.

Nach etwa einer Viertelstunde einvernehmlicher Stille klingelte es an der Wohnungstür. Es war der Freund meiner Schwester, der ihr einen Überraschungsbesuch abstatten wollte. Die drückende Stimmung in der Wohnung ließ ihn den eigentlichen Grund seines Besuchs schnell vergessen und er erkundigte sich nach unserem Problem.
Die knappe Schilderung der Ereignisse ließ ihn leicht grinsen, aber am Ende erstrahlte ein Lächeln in seinem Gesicht.
„Ich habe die Lösung!“
Ich sah ihn ungläubig an. Eigentlich hatte ich das Problem inzwischen für unlösbar gehalten.
„Was für eine Lösung?“ fragte auch meine Schwester.
„Dafür muss ich etwas weiter ausholen.“ Der junge Mann setzte sich zurecht und begann zu erzählen.
„Heute früh wachte ich mit einem eigenartigen Gefühl auf. Rein vom Wort her würde der Begriff ‚Kopfschmerzen‘ passen, aber mein Empfinden war wesentlich subtiler und unterschied sich völlig von sämtlichen Formen des Kopfschmerzes, die ich zuvor kennengelernt hatte. Es war mir, als sei mein Kopf zum bersten gefüllt mit etwas, was nicht hineingehörte. Er schien jeden Augenblick aus den Angeln platzen zu wollen. Zudem stieß ich bei dem Versuch, mich an mögliche Ursachen meiner Unpässlichkeit am gestrigen Tage zu erinnern auf ein außergewöhnliches Phänomen.“ Seine Augen blitzten verheißungsvoll und sein Gesichtsausdruck bettelte geradezu um einen Ausruf wie: „Was für ein Phänomen? Sag es doch, bitte!!!“ oder etwas ähnlich verzweifeltes, aber meine Schwester und ich saßen nur stumm da und starrten ihn an. Er seufzte resigniert und fuhr fort.
„Jede meiner Erinnerungen an gestern kam mir irgendwie länger vor, als das Geschehnis selbst, obwohl keine von ihnen etwa mehr beinhaltet hätte. Vielmehr schienen alle meine Erinnerungen – ich kann es nicht anders ausdrücken – doppelt vorhanden zu sein!“
Er brach ab und strahlte uns an.
Wir starrten zurück.
Schließlich wurde mir klar, dass er nicht fortfahren würde. Enttäuschung machte sich in mir breit.
„Und wie kann mir das jetzt weiterhelfen?“
Er verdrehte die Augen.
„Ist das nicht klar? Ich erinnere mich zweimal. Ich kann dir also einmal abgeben!“
Natürlich. Das war die Lösung. Während ich noch voller Begeisterung meinen Dank stammelte überreichte er mir seine überschüssige Erinnerung. Prompt war der Dienstag wieder da. Ich war spät aufgestanden, hatte einen Spaziergang gemacht...aber halt, das war ganz falsch! Wieso war ich denn nicht ins Büro gegangen wie jeden Dienstag? Ach richtig, es war ja gar nicht mein Tag, an den ich mich erinnerte, sondern der eines Anderen. Der passte jetzt natürlich überhaupt nicht mit meinem restlichen Leben zusammen, mir fehlten die Hintergründe für die einzelnen Handlungen. Warum hatte er was wann gemacht? Das war natürlich ein Problem.
War das ein Problem?
Ich überlegte. Eigentlich war es doch auch mal ganz nett, etwas anderes als meinen gewöhnlichen Alltag zu erleben. Schließlich konnte ich meine eigenen Dienstage jede Woche erleben. Die von anderen Leuten bekam ich dagegen höchst selten zu sehen. Das wäre fast schon ein Grund, den einen oder anderen Tausch in Erwägung zu ziehen. Wann hätte einem schließlich ein bisschen Abwechslung schon einmal geschadet?

Samstag, 23. Juni 2012

3. Kurze Gesellschaft (24.09. - 09.10.33)


von Lady Marie


Die nächsten beiden Wochen waren die schlimmsten meines bis zu diesem Moment dagewesenen Lebens. Ich ernährte mich ausschließlich von Dingen, die ich im Wald fand, wozu auch immer mehr Wurzeln und teilweise sogar bereits Insekten zählten, da die Vorräte, die ich mitgebracht hatte, gänzlich zur Neige gegangen waren. Nach der ersten dieser beiden Woche schon ereignete sich mein erster Diebstahl. Ich hatte einen derartig quälenden Hunger, dass ich lediglich reagierte und zum Glück funktionierte, denn als ich endlich mit meiner Beute versteckt in einem Gebüsch im Wald kauerte, kehrte mein logisches Denken zurück und machte mir die Idiotie meines Ausfalls in vollem Maße bewusst. Ich hatte nicht einmal darauf geachtet, den Bauern abzulenken, hatte mich einfach rasch in seine Stube geschlichen und alles eingesteckt, was sich hatte tragen lassen, um mich bereits wenige Meter im Wald über die Gaben, aus einem halben Laib Brot und einem Ende Salami bestehend, herzumachen. Die nächsten Male war ich vorsichtiger und trotzdem veranlasste mich mein Hunger dazu, gefährlich nahe an die Dörfer heranzugehen. Über nichts weiter dachte ich mehr nach, als über Nahrungsbeschaffungsmethoden und verlor all meine Ideale und Vorsätze, sowie meine derzeitigen Ziele völlig aus den Augen.
Doch erneut wendete sich das Blatt, um mich vielleicht weiter in die richtige Richtung zu schieben.
Es war ein ausnahmsweise sonniger Tag. Und trotzdem fühlte ich mich mürrisch und ruhelos. Von den wenigen zwitschernden Vögeln nahm ich nichts wahr, ebenso wenig von dem wundervollen Geräusch, das der Wind in den Baumwipfeln über mir träumte. Ich hatte Hunger. Seit zwei Tagen hatte ich nichts gegessen außer Kräutern und Pilzen. Noch dazu hatte ich mich den gesamten Morgen übergeben, was ich auf meine Mahlzeit vom vergangenen Abend schob. Nachmittags stolperte ich mehr durch das Dickicht, als zu gehen. Eigentlich brauchte ich Schlaf, den ich in der vorangegangenen Nacht wiederum nicht bekommen hatte, da ein hungriges Wolfsrudel mich auf einen unbequemen Baum jagte und sich erst verzog, als es den Ruf eines anderen Wolfes in der Ferne vernahm.
Teilweise schwamm meine Umgebung um mich herum wie bei einem Erdbeben und ich begann, über die Wirkstoffe des Pilzes nachzudenken, der mein Mittagsmahl ausgemacht hatte und mir nun auf den Magen schlug, so heftig es ihm möglich war. So kam es, dass ich den Stein übersah und die Böschung, und eh ich mich versah, beförderte mich die Schwerkraft Kopf über rollend etwa fünf Meter in die Tiefe, um mich schließlich auf dem Rücken liegend zum Anhalten zu veranlassen. Einen Moment lang konnte ich die Augen nicht öffnen. Ich hatte das Gefühl, dass der Boden unter mir noch immer unangenehm umher schwankte, doch ein Geruch ließ mich schmerzende Gliedmaßen und meinen pochenden Schädel vergessen und mich aufrichten. Feuer. Im selben Moment setzte mein Herz aus, als mir ein überraschter Blick begegnete. Eine Sekunde lang verharrte ich geschockt und starrte nur den anderen an, dann handelten meine Beine von selbst. So schnell wie nie zuvor sprang ich auf die Beine und verschwand in irgendeine Richtung. Doch es war zu spät. Ich war dem anderen quasi direkt vor die Füße gefallen und der scheute sich nicht, die Verfolgung aufzunehmen. Ich wagte es nicht mich umzuwenden, wusste, dass ich dadurch nur Zeit verlieren würde, doch ich hörte ihn hinter mir durch das Laub rennen, als sei seine Entschlossenheit, mich einzuholen, die gleiche wie meine, zu entkommen. Links, rechts, durch Dornenbüsche und über Rinnsäler, endlich funktionierte wieder etwas und das war rennen. Und trotzdem hörte ich ihn näher kommen. Ich spürte bereits meine Lungen schmerzen und meine Beine versagen und hielt beides an, sich zusammenzureißen, als unsere Jagd jäh unterbrochen wurde. Plötzlich stand ich auf der Straße und vor mir – nun, keine fünfzehn Meter von mir entfernt öffnete sich ein Tor zum Dorfe Drisdin hin. Links und rechts vom Tor standen Wachen und blinzelten gelangweilt in den Tag, neben ihnen am Tor hing ein Steckbrief.
Wie versteinert stand ich da. Mir stockte der Atem und ich war unfähig, mich zu bewegen. 'Lauft!', befahl ich stumm meinen Beinen, doch sie gehorchten mir nicht. Einer der Wachmänner kratzte sich am Bart und begann, seinen Blick schweifen zu lassen.
Im nächsten Moment riss mich etwas von den Füßen und, als ich mich besann, saß ich hinter einem Busch.
„Du kannst nicht viel Erfahrung mit solchen Situationen haben, wenn du dich einfach so auf den Präsentierteller stellst. Hast du sie noch alle? Jetzt hätten sie beinahe uns beide erwischt!“
Langsam und noch immer geschockt wandte ich den Kopf in Richtung der Stimme und zuckte zurück. Im nächsten Moment hatte er mich am Arm gepackt und starrte mir kühl entgegen: „Wenn du jetzt eine falsche Bewegung machst, sind wir beide tot, was ich persönlich gern vermieden hätte! Also verhalte dich gefälligst ruhig!“
Obwohl noch immer klopfenden Herzens kauerte ich mich erneut nieder.
Er schmunzelte zufrieden: „Brav so. Ich nehme an, du hast genau so wenig Lust, von denen gesehen zu werden, wie ich, also beruhige dich.“
Er kennt mich nicht, war mein erster Gedanke.
Wieder spähte er durch das Gebüsch: „Sie scheinen nichts bemerkt zu haben. Wenn ich dir Bescheid gebe, machen wir uns leise davon. Denk daran: Leise.“
„Warum hilfst du mir?“, entwich mir die Frage.
„Schhhht!“, machte der Fremde und beobachtete weiter die Wachen, „Ich habe nur...sehr viel Verständnis für jemanden, der sich vor denen verstecken will...“
Überrascht starrte ich ihn an: „Aber...“
„Bescheid“, unterbrach er mich und eh ich verstand, was er meinte, sah ich ihn schon davon huschen. Rasch folgte ich ihm.
Erst als wir zehn Minuten lang nur gelaufen waren, wurde er langsamer und ich konnte zu ihm aufschließen. Wir kamen zum stehen.
„Du kannst mich nicht kennen“, sagte er unvermittelt und versuchte, zu Atem zu kommen. Verwirrt starrte ich ihn an und als er mich ansah, musste er wieder schmunzeln: „Das ist meine Antwort auf deine ungestellte Frage, woher ich wusste, dass du vor Menschen im allgemeinen fliehst und nicht vor mir. Und wenn du vor Menschen fliehst und durch den Wald läufst, dann willst du wahrscheinlich auch nicht den Stadtwachen begegnen.“ Er hielt mir eine Hand entgegen: „Mocis. Nenn mich Cis.“
Zögerlich erwiderte ich diese Geste. „Tilia“, stellte ich mich vor.
Ein überlegenes Grinsen trat auf sein Gesicht. „Du lügst“, freute er sich und auf mein erschrockenes Gesicht hin: „Mach dir nichts draus. Ich lüge auch... Komm schon. Es wird bereits Abend. Lass uns meine Sachen holen, ein Versteck suchen und jagen. Du hast doch sicher auch Hunger, oder?“
„Jagen? Aber wie willst du denn Fleisch zubereiten? Wenn wir ein Feuer entzünden, finden sie uns doch sofort.“
Er war bereits vorangeschritten und ein leises Lachen entfuhr ihm: „Es ist Rodungssaison, du Dummi. Du glaubst doch nicht ehrlich, dass die sich über ein kleines Feuer im Wald wundern. Außerdem sind wir weg, eh die uns gefunden haben. Nun komm schon.“

Er kannte mich nicht. Und er floh ebenfalls. Wahrscheinlich hingen diese beiden Tatsachen zusammen, doch für mich war jede von ihnen für sich ein kleines Wunder.
Rasch sammelte er die paar Dinge zusammen, die er an seiner Feuerstelle hatte liegen lassen. Eine zerschlissene Ledertasche, ein Buch und eine Flasche Wasser. Dann häufte er etwas Erde über die Glut, die von seinem Feuer übrig geblieben war und wir machten uns auf den Weg weiter nach Osten.
Eineinhalb Stunden später saßen wir an einem neuen Feuer, über dem ein Kaninchen und zwei Eichhörnchen vor sich hin brieten.
Ich saß auf dem Boden, hatte die Knie angezogen und mit meinen Armen umschlungen, während ich das Feuer beobachtete. Auf einmal hatte mich eine unendliche Müdigkeit befallen. Die letzten Tage zogen an meinem inneren Auge vorüber. Ich hatte mich erbärmlich verhalten und dann auch noch auf so sinnlose Weise, denn nun wusste ich, dass ich durchaus jagen und Feuer entzünden konnte.
„In wenigen Minuten ist es fertig“, bemerkte Mocis amüsiert, „Du kannst natürlich auch jetzt schon etwas essen, wenn es dir auf die paar Minuten nicht ankommt.“
Ich verzog das Gesicht: „Warum sagst du das?“
„Nun, du siehst halb verhungert aus. Wann hast du das letzte Mal richtig gegessen?“
„Vor ein paar Wochen bin ich in einem Haus untergekommen.“
Überrascht sah er auf: „Du denkst, dass die Wachen dich verhaften werden, obwohl du in einem Haus bleiben konntest?“
„Ich habe es knapp geschafft, zu fliehen.“
„Hm. Du hättest vorsichtiger sein sollen.“
„Aus dem Haus hat mich niemand verraten. Die kannten mich gar nicht. Aber... es war trotz allem eine Falle. Und jetzt suchen sie mich alle.“
„Sie haben gewartet, bis du dich schlafen legtest, und dann deine Gastgeber besucht?“
„Richtig.“
„Dann sind sie noch auf der ersten Stufe ihres Verfolgungsplanes. Haben dich zuvor nur beobachtet und versuchen nun, die Menschen auf dich aufmerksam zu machen. Du solltest dich in Acht nehmen. Aber“, und wieder lächelte er, „du kriegst es ja ganz gut hin, Fremden deine Geschichte rüber zu bringen.“
Ich schmunzelte geschmeichelt: „Diese Behauptung kommt etwas unerwartet, nachdem du meine Lügen so einfach enttarnt hast.“
„Ich bin auch daran gewöhnt, die Leute durchschauen zu müssen.“
Mir kam ein Gedanke: „Vor ein paar Wochen begegnete ich auf der Straße einem Alten Mann mit einem Karren. Eine Art fahrender Händler. Der schien auch mehr zu verstehen, als er zugab.“
„Ein alter Mann?“, Cis horchte auf.
„Ja. Er war auf dem Weg in das Dorf, in dem man versuchte, mich festzusetzen.“
Der junge Mann musterte mich kurz nachdenklich: „Den Umhang hast du von ihm bekommen, nicht wahr?“
Überrascht schaute ich ihn an: „In der Tat. Kennst du ihn etwa?“
„Nein“, erklärte Cis. Seine Züge wirkten unruhig. „Ich frage mich nur... Nein. Ich kenne ihn nicht“, riss er sich schließlich zusammen.
Aber er log. In irgendeiner Hinsicht log er gerade.
„Das ist ein guter Umhang“, fügte er letztendlich hinzu, „Du solltest ihn hüten.“
Eine Weile herrschte Schweigen und ich musterte ihn prüfend.
„Eins verstehe ich nicht“, lenkte ich dann ab.
„Was denn?“
„Sie haben mich nie eingeholt. Ich war zu Fuß und sie haben alle möglichen technischen Hilfsmittel. Nach meiner Flucht von zu Hause haben sie mich gar nicht weiter verfolgt. Deswegen traute ich mich ja erst in das Dorf. Haben sie tatsächlich nur gewartet? Aber warum bin ich dann jetzt noch auf freiem Fuß. Kann es tatsächlich sein, dass ich mich so gut versteckt habe?“
„Das bezweifle ich.“
Als ich ihn ansah, zierte seine Züge ein provokantes Lächeln.
Ich musste schmunzeln.
„Aber warum haben sie mich dann nicht schon längst eingefangen“, kam ich wieder auf das Thema zurück.
„Ganz einfach“, erklärte Cis und setzte sich wie ich selbst ans Feuer, „Ihre Radargeräte funktionieren hier nicht.“
Einen Moment lang starrte ich ihn nur an, während er schmunzelnd das Fleisch vom Feuer nahm und es zerlegte.
„Wie ist das möglich?“, fragte ich ungläubig.
„Genauso, wie es möglich ist, dass ihre Motoren versagen, wenn die Räder ihrer Automobile Waldboden berühren und ihre Flugapparate darüber abstürzen.“
Was?“
„Davon hast du noch nichts gehört? Dann bist du tatsächlich nicht vor langem abgehauen. Jeder, der lang genug im Hintergrund lebt, erfährt das irgendwann.“
„Aber, wie kann das denn sein? Sie haben die modernsten Antriebe und Techniken! Sie haben jede erdenkliche Möglichkeit, einen Menschen aufzuspüren! Selbst DNS – Rückerinnerer (Apparat, der auf Basis der DNS einen Plan für das Handeln des jeweiligen Menschen entwirft. Entwickelt 2120)!“
„So weit sie mit ihrer Technik auch fortschreiten, sie werden nie unfehlbar sein. Ihr totales Versagen in den Urwaldgebieten erklären sich die Leute auf verschiedenste Weise.“
Er reichte mir ein Stück Fleisch, doch ich war so baff, dass ich nicht daran dachte, zu essen: „Wie denn?“
„Manche sagen“, grinste er, „dass die Elfen zurückkommen.“
Mein Blick wurde misstrauisch: „Mit anderen Worten, sie tun, was Menschen immer tun: Sie schieben alles auf eine übernatürliche Kraft.“
„Genau“, lächelte Cis, „Du solltest jetzt essen. Darauf hast du die ganze Zeit schon gewartet.“
Da fiel auch mir das Essen wieder ein. Bemüht anständig biss ich in den Braten und wäre bei der nachfolgenden Geschmacksexplosion beinahe gestorben. Ohne es zu wollen, begann ich zu schlingen. Noch nie hatte ich etwas so großartiges gegessen!

Nun wusste ich also, warum ich noch auf freiem Fuß war: Eine Menge Glück und mysteriöse Fabelwesen, die den Wald schützten und dabei elektronische wie Benzin-betriebene Apparate nicht duldeten... Natürlich glaubte ich daran nicht. Aber, was auch immer für das Versagen der Technik im Wald verantwortlich war, ich war dankbar, dass es existierte und man nicht wusste, wie man ihm beikommen konnte. So konnte ich, wenn ich mich bemühte, den Winter über unentdeckt bleiben. Aber daran glaubte ich eigentlich auch nicht. Selbst wenn mich Kälte und Hunger nicht umbrachten, würden mir früher oder später die Menschen zu sehr fehlen und dann würde ich sie suchen gehen, wobei ich eventuell meine Freiheit riskierte und für immer verlor.
Wie machte Mocis das?
Das erste Mal seit beinahe einem Monat hatte ich tatsächlich Gesellschaft und ich genoss die Unterhaltung mit dem Fremden sowie die Entspannung, da ich nicht bei jedem Geräusch aufschrecken musste. Aus irgendeinem Grund hatte seine Gegenwart etwas beruhigendes für mich. Ich fühlte mich sicher vor allem Äußeren, seit er da war, und doch hatte ich das Gefühl, dass ich vorsichtig sein sollte, was ihn betraf...
Je später es wurde, desto schwerer wurden meine Augen. Doch ich wollte nicht schlafen, auch wenn ich den Grund dafür nicht verstand, denn dies war die erste Nacht seit langem, in der ich vielleicht so etwas ähnliches wie unbeschwerten Schlaf finden konnte.
„Woher hast du eigentlich diese Waffe“, fragte ich nach einer Weile, um mein Bewusstsein wach zu halten und meinte damit seine Pistole.
Cis stocherte im Feuer umher. „Berufsgeheimnis“, murmelte er.
„Du arbeitest?“
„Ja. Aber ich hoffe, dass du niemals herausfinden wirst, als was.“ Ich sah ihn lächeln, aber in seinem Lächeln lag etwas grimmiges.
„Wie alt bist du?“, fragte ich ihn.
„Auch davon hoffe ich, dass du es nie herausfindest“, grinste er schelmisch, dann schweifte sein Blick wieder ins Feuer, „Ich bin achtundzwanzig.“ Er warf mir eine Decke zu: „Wie alt bist du, Tilia?“
„Dreiundzwanzig“, murmelte ich müde, während ich mich in die Decke einwickelte. In den letzten Tagen war es immer kühler geworden. Allmählich fing ich an, mir Gedanken über den Winter zu machen...
„Hm“, machte der Andere nachdenklich, „dann solltest du jetzt vielleicht ein bisschen schlafen. In deinem Alter braucht man noch etwas mehr Schlaf.“
Ich lächelte, zögerte aber.
„Ich übernehm die erste Wache“, erklärte er, „Ich wecke dich, wenn du dran bist.“
Eigentlich wollte ich ihm widersprechen, denn es gefiel mir noch immer nicht, zu schlafen, während er sich in der Nähe aufhielt, doch in diesem Moment gewann meine Erschöpfung über meinen Geist und ich sank in einen tiefen, unbezwingbaren Schlummer.

Freitag, 22. Juni 2012

Ich kann nicht schlafen




Nicht nur, dass ich in letzter Zeit ohnehin unglaubliche Schwierigkeiten damit habe meiner nächtlichen Ruhe nach zu kommen, nein, dazu kommt in dieser besonderen Nacht noch die Tatsache dass ein junges Pärchen entweder auf dem Hinterhof oder aber bei sehr weit geöffneten Fenstern ihren menschlichen Gelüsten nach gehen muss. Und zumindest Sie ist nicht gerade leise. Ich versuche mir ganz einfach vorzustellen wie sie wohl aussieht um mich über das Problem, des nicht schlafens hinwegzutrösten. Allerdings, ergibt sich dadurch das Problem, dass der einzige weibliche Körper den ich in meinem Leben nackt sehen durfte, der meiner Freundin ist. Und ich möchte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass da irgendein Typ meine Freundin flach legt!
Ich mache Musik an. Nun spielen in meinem Zimmer leise Children of Bodom, und schaffen es tatsächlich mich kurzzeitig fast einschlafen zu lassen.
Ich weiß nicht ob sie zwischendurch eine Pause gemacht haben oder fertig gewesen sind oder ob die Musik es tatsächlich geschafft hatte mich abzulenken… Jedenfalls geht es jetzt wieder los. Ich drehe die Musik ein wenig lauter doch es hilft nichts! Ich überlege, ob ich einfach mal rufen sollte: „Ja, gib‘ s der Sch****e“! Aber aus meinem Mund kommen nur die Worte: „Könnt ihr nicht wenigstens das Fenster zu machen!“
Ich drehe die Musik noch ein wenig lauter. Es bringt nichts! Ich versuche die Geräusche von ihr mit dem Shouting von Alexi Laiho in verbindung zubringen. Jetzt frage ich mich ob er im Bett wohl auch so klingt wie in seiner Band. Unnötig! Versuch ich diese Gedanken wieder aus meinem Kopf zu bekommen. Jetzt legt der Typ wenigstens nicht mehr meine Freundin, sondern den Sänger von Children of Bodom flach. Endlich ein Gitarrensolo! Die Gelegenheit an etwas anderes zu denken. Ich drehe die Musik noch ein wenig lauter. In der Zwischenzeit ist die Hälfte der CD vorbei und die Anlage auf beinahe volle Lautstärke aufgedreht. Es klingelt an der Tür. Ich ziehe mir schnell etwas über und gehe hin. Ich öffne die Tür. Vor mir steht eine junge Dame nicht viel älter als ich. „Geht dass vielleicht etwas leiser!“ sagt sie
„Hm.“ Ich nicke „Verzeihung. Wollen sie vielleicht mit rein kommen?“
„Was?“
„War ein Spaß. Ich mach die Musik leiser.“
„Ach Musik… Nein ich meinte… ich dachte…“ sie räusperte sich „sie wissen schon.“
„Ja ich weiß schon.“ Sage ich
„Na gut. Dann such ich weiter.“
„Hm.“ Ich nicke wieder, schließe die Augen und sage: „Gute Nacht.“
Ich drehe mich um, mache die Tür zu und gehe kurz in die Küche. Ich mache das Licht an. Um vier… In spätestens drei Stunden muss ich aufstehen. Auch die Fenster der Küche richten sich zum Innenhof. Dadurch höre ich, dass die beiden immer noch nicht fertig sind.
Ich koche mir Wasser auf und mahle ein wenig Kaffee. Der Kaffee ist gerade fertig, da klingelt es wieder an der Tür.
„Ich mach die Musik leiser.“ Sage ich nach dem Öffnen der Tür. Ich bin überrascht, denn vor mir steht schon wieder die junge Dame von vorhin.
„Ich hab die beiden gefunden. Sie haben gesagt sie hören auf, da sie bei dieser Musik ohnehin nicht können.“
„Dann hat‘ s ja doch was gebracht.“ Sag ich immer noch schlafend. „Ich dachte eigentlich ich übertöne einfach den gespielten Orgasmus des hörbaren vermutlich betrunkenen Weibchens mit der wesentlich angenehmeren wenn auch lauten Musik und allen geht es gut.“
„Ja.“ Lächelt die junge Dame und hängt dann noch dran: „Du kannst die Musik übrigens noch länger an lassen…“

22.06.12
Victor Ian Clockwork

Donnerstag, 14. Juni 2012

§ 90 a im Strafgesetzbuch


Neulich is mir was krasses passiert.
Doch eigentlich nichts, weshalb man den Verstand verliert.
Ich wollte grade Grill‘ n
und mit n paar Kumpels chill‘ n,
doch wir hatten den Grillanzünder vergessen.
Oder der Hund hatte ihn gefressen.
Dann kam ein Fußballfan, er war betrunken
und hatte eine Flagge in seiner Hand.
Ich schlug ihn an die Wand
und er ist auf den Boden gesunken.
Die Flagge war perfekt und brannte auch sehr Gut.
Doch dann kam ein Typ mit einem grünen Hut.
Schon lang bevor ich ihn sah,
hatte ich ihn verflucht
er sagte:
das ist ein Verstoß gegen § 90 a
im Strafgesetzbuch!
Ich klagte,
und schlug auch ihn schon fast
Er sagte:
Du kommst eh in den Knast

Der Richter war nicht besser, beschimpfte mich,
und kannte keine rast
Dann unterbrach er sich
und sagte: Du kommst eh in den Knast!
Ich fragte warum?
Mir wurde es zu dumm.
Und ich schilderte die Situation.
Er sagte: was macht das schon.
Es macht mich fertig! Ganz und gar!
Mir scheint das ihr immer streit sucht!
Es ist ein Verstoß gegen § 90 a
im Strafgesetzbuch
Was heißt denn das?
Ich weiß es nicht!
Macht euch nich nass!
Und bringt ins Dunkel mal Licht!
Ich hatte nun die Aufmerksamkeit des ganzen Gerichtsrates
und zog einen Kaugummi von meiner Schuhsole.
Verunglimpfung des Staates
Und seiner Symbole
Meldete sich nun ein kleiner Mann mit Brille
Ich kannte ihn. Seine Frau hieß Sibylle
Ich war in der Nacht zu vor ganz geschickt,
noch bei ihr gewesen
und wir hatten zusammen..hm..gelesen…
Dann hab ich genickt
Dass ich es verstanden hab
Doch es war knapp.
Beinahe währ ich ausgerastet!
Dann wurde ich noch abgetastet
Und abgeführt.
Und der scheiß Bulle hatte mich wieder berührt.

Im Knast fragte mich ein Häftling.
Er schien eigentlich grad beschäftigt.
Und wie hast du gesündigt?
Ich hab ne Flagge angezündet.
Er schaute mich an, sein Blick war klar.
Und er trug ein Piratenkopftuch.
Das ist ein Verstoß gegen § 90 a
Im Strafgesetzbuch.
Mir wurde es zu viel!
Kannten denn alle den Paragraphen?
Er hieß übrigens Neal
Und war nur einer von den Affen!

Als ich endlich frei war,
schrieb ich einen Brief an Merkel.
Die Politiker benehmen sich wie Ferkel
Und das war mir klar!
Bald kam auch schon ein Brief zurück,
ich dachte grade welch ein Glück.
Doch er war ziemlich fies,
denn es hieß:
Freiheit ist nicht, dass sie tun was ihnen gefällt!
Es ist unsere Freiheit. Denn uns gehört die Welt!
Ich fühlte wie die Kraft mich verließ
Ihr Herz ist nicht groß.
Und ich stand nun da.
Sah ein rotes Tuch.
Denn es hieß:
Ihr verstoß
Richtet sich gegen § 90 a
Im  Strafgesetzbuch!

14.06.12
Victor Ian Clockwork

2. Der erste Schritt (21.09. - 24.09.2133)

von Lady Marie


So stand ich nun im Regen, frierend, müde und schmutzig, erschöpft und aufgeregt, wie zu früherer Zeit ein Kind am Weihnachtstag. Niemand war auf den Straßen. War es ein Wunder? Jeder, der noch bei Sinnen war, befand sich in seinem Wohnzimmer mit einer Tasse Tee vor der Mattscheibe. Aber ich – ich hatte die ganze letzte Woche in der Witterung gelebt. Ich lebte zurückgeworfen ins Mittelalter. Ohne Heizung, ohne Herd, selbst ohne Dach. Aber ich lebte.
Zum Abschied hatte mir Lokin einen Umhang geschenkt. Er meinte, dass ich bei dem Wetter frieren müsse und wollte mir etwas Gutes tun, weil ich ihn begleitet und ihm geholfen hatte. Ich hatte kurz gerätselt, woher er dieses Stück Kleidung bekommen hatte, denn es sah tatsächlich – passend zu meiner Situation – sehr mittelalterlich aus. Aber die meisten der Dinge, die er mit sich herumschleppte, wirkten ausgesprochen vorsintflutlich.
Wahrscheinlich wäre ich in diesem Mantel auffallen wie ein bunter Hund, wenn nicht niemand von mir Notiz genommen hätte. Tatsächlich hatte keiner der drei Passanten, denen ich kurz mein Gesicht offenbart hatte, eine Regung gezeigt. Damit ließ es sich ausschließen, dass mein Profil im Fernsehen aufgetaucht sein könnte.
Die Tropfen rannen mir über das Gesicht. Sie liefen meine Wangen hinunter, über meine Lippen und tropften mir vom Kinn. Und das erste Mal begriff ich es: Ich war fort von zu Hause. Ich stand  plötzlich völlig auf eigenen Beinen. Und ich war allein. Ganz allein.
Keine Steckbriefe. Überall hingen welche herum, aber keinen zierte mein Gesicht. Meistens waren es eh nur Katzen und Kinder, die gesucht wurden. Schlimm genug.
Einen der Papierfetzen riss ich von seiner Aufhängung und sah ihn mir genauer an. Das Leben lief weiter, wie es war. Nichts hatte sich geändert. Außer meiner Situation. Aber zurückgehen konnte ich trotzdem nicht. Irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass an dem Frieden etwas faul war...
„Hey, Mädel!“
„Ja?“ Ich wandte mich nicht um. Plötzlich schlug mir das Herz bis zum Hals.
„Du wirst ja ganz nass.“
Jemand legte mir eine Hand auf die Schulter und beinahe zuckte ich zusammen.
„Haste was, wo de bleiben kannst?“
„Nicht direkt.“
Kurz schwieg die Frau. „Na komm schon“, sagte sie und ich hörte Schritte, „Schlafen kannste heut Nacht bei mir. Ich hab n Zimmer frei. Haste Geld?“
„Nicht direkt“, erwiderte ich.
Ein stummes Seufzen erklang: „Na, is egal. Man hilft ja eben doch, wo man kann. Nu komm aber auch. Ich will nicht die ganze Nacht auf der Straße stehen.“

Eh ich mich versah, stand ich in einer Diele mit Laminat unter den Füßen und wohliger Wärme um mich.
„Du kannst deinen Mantel jetz ausziehen“, bemerkte die Stimme leicht schnippisch, „Du siehst ja: Hier drin regnets ja nich.“
„Ja, Sie haben recht“, beeilte ich mich zu sagen und fragte mich im selben Moment, was ich hier eigentlich tat. Hatte ich den Verstand verloren, in ein Haus zu gehen?
Unbehaglich schlug ich meine Kapuze zurück und musterte die Züge meiner Gastgeberin.
Kurz herrschte Schweigen. Nichts an ihrem Gesicht veränderte sich.
„Willste den jetz ausziehen oder nich. Beeil dich mal. Wir ham noch nich gegessen.“
„Natürlich“, gab ich zu und streifte meinen Mantel gänzlich ab.
„Mannomann“, schimpfte die Dame des Hauses, „Die Kälte muss dir aber ganz schön zugesetzt haben, Kleene, wenn de so begriffsstutzig bist.“
Ohne etwas zu erwidern folgte ich ihr ins Wohnzimmer, wo ich sofort das Gebrabbel eines Fernsehers vernahm. Auch der Hausherr schien mich nicht zu erkennen. Er sah nur kurz auf, dann brummte er besoffen: „Wir ham ja Besuch.“ Und wandte sich wieder den flimmernden Bildern zu.
Im Durchschnitt sahen die Menschen acht Stunden am Tag fern. Selbst beim schlafen noch liefen die Bildschirme. Hätte man mich wirklich gesucht, wäre dieses das perfekte Medium gewesen.
Nachdem ich etwas zu essen bekommen und mich hatte zurückhalten müssen, um nicht zu schlingen, verabschiedete ich mich zeitig ins Bett und dankte zum wiederholten Male für die Gastfreundlichkeit, was nur mit einem gleichgültigen „Ja, ja“, kommentiert wurde. Ich bereitete mein Bett und schlüpfte gewaschen und satt unter die Decke, meine Sachen und meinen Mantel neben mir auf einem Stuhl liegend. Fast sofort übermannte mich die Müdigkeit. Hätte sie es nicht getan, hätte mich vielleicht schon viel früher ein leises Klicken im unteren Stock aufschrecken lassen.

Erst, als ich leise Schritte in der Diele, welche sich unter meinem Raum befand, hörte, schlug ich die Augen auf. Es war, als versuchte jemand, Geräusche zu vermeiden. Sofort saß ich hellwach im Bett.
„Sie sind sicher?“, flüsterte jemand.
„Ja“, brummte eine andere Stimme, „ein Bürgersmann hat sie erkannt. Ist ihr Raum oben?“
Etwas klickte.
Ein zuvor monatelang durchgeführtes Training im Hause meiner Mutter erlaubte es mir, innerhalb einer Minute komplett eingekleidet zu sein. Da waren die Schritte bereits auf der untersten Treppenstufe.
Verdammt! Dass ich fliehen musste, dessen war ich sicher. Aber wie? Mein Blick fiel auf das Fenster.
Die Schritte erklommen die Stufen.
„Ist sie bewaffnet?“
„Keene Ahnung...“, erklang die verängstigte Stimme meiner Gastgeberin, „Aber ich bitte Sie. Was hat die Kleene denn gemacht?“
Ich hörte, wie er sich zu ihr umwandte und hielt den Atem an. Wenn die Frau klug war, schwieg sie jetzt. Und das tat sie.
Wieder Schritte, leiser, vorsichtiger, näherten sich meiner Zimmer.
Mit einem Mal schwang die Tür auf. „Keine Bewegung!“, brüllte der Wachmann. Doch dieses Mal hatte er kein Glück.
Als er den Raum betrat, war dieser leer. Das Fenster stand leicht offen. Das Bett war zerwühlt und verlassen, sonst gab es kein Anzeichen dafür, dass sich in diesem Raum eine fremde Person befunden haben konnte.
Wieder hallten vorsichtige Schritte über den Boden:
Die Schritte näherten sich dem Kanapee.
„Vielleicht is se durchs Fenster weg“, erklang die Stimme des Hausherrn und er entschuldigte sich auf einen unangebrachten Rülpser hin.
„Möglich“, erklärte der Wachmann, ging zum Fenster hinüber und schloss es, nachdem er hinaus gespäht hatte, „Aber da unten stehen meine Männer. Die hätten sie erwischt...“
Nun kam er zum Bett. Rüpelhaft zerrte er die Bezüge hinunter, dann ging er in die Hocke, um darunter zu schauen.
Nichts.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Er öffnete den Schrank, ging zur Zimmertür, riss sie ruckartig zurück, um dahinter zu sehen -
Nichts.
Plötzlich wandte er sich um, zog seine Pistole und schoss in die Matratze. Die Frau schrie auf. Eine Wolke aus Federn hüllte den Raum ein. Doch keine Verfärbung zeigte sich im flauschigen Weiß. Kein Blut. Und keine Regung.
Nachdenklich steckte der Wachmann seine Waffe weg. „Nicht einmal ihre Tasche ist noch hier“, murmelte er mehr für sich selbst, „Wie hat sie das...?“
„Ham se wohl doch gepennt, Ihre feinen Wachleute“, kicherte der Hausherr.
Der Wachmann blieb unbeeindruckt. Er ging zur Tür zurück: „Folgen Sie mir bitte, ich hätte da noch einige Fragen an Sie.“
In der Ferne trug der Wind ein paar Daunen weit über die Dächer.
Schritte auf der Treppe nach unten. Eine Weile Stille. Dann vernahm man in der Nacht, wie Hauptmann Leier seine Männer anbrüllte, die kurz darauf begannen, das Haus von Innen zu durchkämmen.
Währenddessen seilte sich an der äußeren Fassade jemand aus einem der Fenster im ersten Stock ab, landete weich auf dem unbewachten Boden, zupfte sich ein paar Federn aus dem Haar und nahm die Beine in die Hand. Wenn sie das nächste mal das Zimmer betraten, würden sie die zur Hälfte ausgeleerte Matratze vorfinden und einige Federn an den Simsen hängen. Ich hatte verdammt Glück gehabt, dass er daneben geschossen hatte...

Am nächsten Morgen erinnerte ich mich nur noch an die Hälfte von all dem. Jedoch bewunderte ich die Geschwindigkeit, mit der ich es bewerkstelligt hatte, ein Loch in die Matratze zu schneiden, das Fenster zu öffnen, einen Haufen Daunen in die Nacht zu schmeißen, die der Wind Gott sei Dank über die Wachleute hinweggetragen hatte, und in das Federwerk zu kriechen, ohne einen Laut von mir zu geben. Aber ihre Unterhaltung hatte mir Zeit geschenkt und meine Angst mir Adrenalin. Es war ein Segen, dass das Haus so hellhörig gewesen war, und ein Wunder, dass ich genau die richtige Menge an Federn erwischt hatte, dass ich die Matratze genau so zugehalten hatte, dass niemand den Schlitz sah, dass die wenigen herumfusselnden Federn im Schatten gelandet waren, dass ich von der Kugel, die drei Zentimeter neben der Stelle, an der ich mich befunden hatte, ins Bettgestell eingeschlagen war, verschont geblieben war.
Es war ein Wunder.
Und so erwachte ich des Morgens irgendwo im Wald auf einem Baum, dessen Äste eine Art Plattform bildeten, sodass ich darauf hatte schlafen können, ohne herunter zu fallen, und wunderte mich über meine Unversehrtheit.
Wenige Minuten später war ich bereits wieder auf dem Weg. Ich musste so weit wie möglich fort von hier. Doch dieses Mal, war das Glück mir nicht hold. In der Nähe eines weiteren Dorfes entdeckte ich zwei Tage später, in denen ich beinahe durchgehend gelaufen war, eine Zeitung vom Vortag.
Gesuchte Verbrecherin, stand in der Schlagzeile.
Ich las die ersten Sätze:

'In der Nacht auf Freitag wurde das Versteck einer entflohenen Straftätigen entdeckt, die sich als harmloser Wanderer in einem zivilen Gebäude Unterschlupf erschlichen hatte. Polizeilichen Bemühungen, die Zivilbevölkerung über sie in Kenntnis zu setzen und sie zu inhaftieren, zum Trotz gelang ihr die Flucht in den nahegelegenen Wald.'

Mein Blick schweifte bis zum Ende des Artikels:

'Es ist zu vermuten, dass besagte Kriminelle erneut in einer Siedlung auftauchen wird. Daher ist jeder Bürger dazu angehalten, Obacht walten zu lassen...'

Etc. etc. Daneben zierte ein altes Bild von mir das Papier. Damals fragte ich mich noch nicht, woher sie das gehabt hatten. Ich übersah diesen Aspekt im Angesicht der Ereignisse leider völlig. Stattdessen beschäftigten mich andere Dinge.
Sie hatten also beschlossen, nun eine andere Strategie zu fahren. Von jetzt an konnte ich es wohl endgültig vergessen, noch einmal ein Dorf oder eine Stadt aufzusuchen. Ich musste mir ehrlich etwas einfallen lassen. So viel Glück ich drei Nächte zuvor gehabt hatte, so viel Pech hatte ich wohl nun. Aber eins war mir dadurch wenigstens sicher: Sie hatten mich nicht vergessen. Sie hatten mich einfach nur aus meinem Versteck locken wollen, wenn ich mich in Sicherheit wog. Aber warum hatten sie mich im Wald nicht bereits verfolgt? Hatten sie womöglich tatsächlich meine Spur verloren?

Mittwoch, 13. Juni 2012

Telefondienst


Aufgrund der Tatsache, dass der Kollege von der Zentrale diese Woche, wie er es so schön sagte: Urlaubstage vernichtet, sitze ich unter anderem heute hier im Büro und gehe an das Betriebliche Telefon. „Victor Clockwork, Altes Backsteinhaus in Magdeburg, schönen Guten Tag.“
Die meisten Leute, lassen mich gar nicht erst ausreden, sondern platzen mit ihrem Anliegen direkt heraus. Unter anderem wollte eine Dame für die Veranstaltung heute Abend welche in Kooperation mit ihrem Betrieb läuft, 20 Stühle mehr bestellen. „Ja  ich sag bescheid… ja gerne… ja… ob ich heute Abend da bin? Nee leider nich… wieso nich? Nja ist nun einmal so, dass die Logistik mir den Kopf abreißen wird wenn ich ihnen das erzähle… ja… ja wünsch ich ihnen auch..ja..Tschüss.“
Eben hat ein Panflötenspieler angerufen und mir erst einmal Geschichten erzählt von damals als er hier auf Banketten gespielt hat. Nicht einmal sein Akzent machte es angenehmer. Aber das auch nicht gemerkt hat, dass ich nach den ersten zwei Minuten bereits eingeschlafen war. Dann kam der entscheidende Satz: „Ich könnche mich zum Beispielch vorchstellen auf Weichnachtsmärchten zu spielen.“ Stimmt… Stimmt! Da hingen die ganzen alten Omis rum, die sich für die Lebensgeschichten eines PANFLÖTENSPIELERS interessierten. „Ja… da haben sie recht… ja… Wenn sie mal fünf Minuten still sind, frage ich mal ob die dafür zuständige Kollegin zu sprechen ist.“ Sie war zu sprechen aber nich begeistert. Allein der Satz: „ich guck‘ s mir an!“ bedeutet: „Nein, tut mir leid aber sowas… Nein!“
Und dann rufen doch tatsächlich Leute an und wollen irgendwen von der Veranstaltungsplanung sprechen. "Ja schönen Guten Tag. Wir sind ein Veranstaltungszentrum für welche Veranstaltung wollen sie denn jemanden."
"Na allgemein."
"Allgemein jemand der Veranstaltungen macht oder allgemein jemand der bei den Veranstaltungen mitwirkt? Wir haben da noch ne Ratte im Wehrgang die dient uns immer als Statist. Sie spielt den Kaiser Otto."
„Nee schon jemand der die Veranstaltungen plant.“
„Herzlichen Glückwunsch. Ich habe vor einem Monat mein erstes Projekt hinter mich gebracht.“
„Naja dann vielleicht doch jemand anderen.“
„Also doch nich allgemein?“
„Doch. Aber jemand mit mehr Erfahrung.“
„Erfahrung?“
„Ja!“
„Kann ich sie wieder auf die Kaiser Otto Ratte verweisen? Ich kann ihnen ihre Nummer besorgen.“
„Nein ich hätte gern jemanden richtiges.“
„jemanden richtiges?“
„Ja!“
„Mit Erfahrung?“
„Ja verdammt! Jetzt geben sie mir…“
„Dann sind sie hier falsch. Auf wiederhörn.“


Victor Ian Clockwork
13.06.12

Montag, 11. Juni 2012

Mauer aus Stein


Deine Gedanken sind frei
Und schweben vorbei
Doch keinen scheinst du zu fassen
Du fängst sie nicht ein
Sagst: „Es soll nicht so sein.“
Weil sie dann die Welt verpassen

Du ziehst hinaus in die Welt
Und machst was dir Gefällt
Merkst nicht was du versetzt
Du denkst alles ist gut
Zwischen uns loht die Glut
Und merkst nicht, dass du mich verletzt

Das du machst was du magst
Und nicht machst was du sagst
Das ist unser Problem
Und während du sagst
Dass du mich magst
Höre ich: Auf wiedersehn

Du sagst ich hab recht
Und die Liebe sei echt
Und vertröstest mich wieder auf später
Du sprichst von irgendwann
Und sagst immer dann
Und merkst nicht, du bist der Täter

Du sagst was dir Gefällt
Es sei das größte auf der Welt
Und siehst die Problematik nicht ein
Du siehst in mein Gesicht
Und während du Sprichst
Steht zwischen uns eine Mauer aus Stein
Und alles was bleibt
Durch die Meere treibt
Ist mein totes Gebein


Victor Ian Clockwork
11.06.12

Donnerstag, 7. Juni 2012

1. Der Weg (10.09. - 21.09.2133)

von Lady Marie



Nach mehr als einer Stunde querfeldein-Laufen durch den Wald, begannen meine Knie fürchterlich zu schmerzen. Gleichzeitig machten sich auch die Gedanken langsam Platz und mit ihnen die Frage, wie überhaupt meine Möglichkeiten standen, gänzlich zu entkommen. Ich hatte jeden Trick verwendet, um meine Spuren zu verwischen, jeden, den ich kannte. Doch sie hatten Hunde, Fahrzeuge und Radargeräte. Wie groß war meine Chance?
Außerdem wurde ich müde. Es war noch nicht einmal Mittag und ich sollte schon aufgeben? Unmöglich!
Weiter, immer weiter. Es gab keinen Weg, es gab nur Richtungen und den Versuch, keine einzuschlagen. Kurz nach Beginn meiner Flucht hatte ich trotzdem den Kompass aus meinem Rucksack gezerrt und lief nun seit etwa einer Stunde nach Norden, ohne selbst überhaupt zu wissen, warum. Ich hatte keinen Ort, an den ich gehen konnte. Es gab niemanden, bei dem ich Unterschlupf suchen wollte, denn entweder müsste ich befürchten, verraten zu werden, oder aber jemanden in Schwierigkeiten zu bringen, indem ich ihn um seine Hilfe bat.
Natürlich wusste ich nicht, wie ausgiebig ich wohl gesucht werden würde. Vielleicht war man auch viel zu beschäftigt, um sich tatsächlich um einen kleinen Fisch wie mich zu kümmern. Aber immerhin setzte man einen Menschen nicht umsonst auf die Vogelfreien-Liste. Die Dörfer in der Gegend konnte ich vorerst wohl vergessen. Wenn man mich suchte, würde ich dort schnell auffallen. Vielleicht konnte ich in einer Stadt untertauchen. Irgendwo, wo die Menschen einander nicht kannten und sich ebenso wenig für den anderen interessierten.
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, in Richtung Norden zu laufen. Irgendwo dort lag nämlich tatsächlich eine Stadt, die eventuell für meinen Zweck geeignet sein konnte. Nur musste ich vorher dorthin gelangen. Einen Wagen bekam ich nicht, Zug war des Preises wegen und Flug wegen der Kontrollen ausgeschlossen. Aber vielleicht würde ich dennoch einen Weg finden. Eine andere Chance hatte ich ja nicht.
Schließlich hielt ich an einem hohlen Baum inne. Ich ignorierte alles Krabbelgetier, welches mich normalerweise leicht in Unstimmung versetzte, und kroch selbst in den tristen Unterschlupf.

Die Tage wurden immer länger. Eine Woche lang streifte ich nur durch den Wald und mied jegliche Zivilisation. Das war gar nicht so einfach, da sich in den letzten Jahrzehnten mehrere neue Dörfer in der Umgebung gebildet hatten. Die Menschen, die Ruhe suchten, zogen aus der Stadt weg, die, welche gescheitert waren, versuchten auf dem Land ihr Glück wie jene, die Angst haben mussten, verfolgt zu werden. Aus dieser Perspektive gesehen hätte ich in den Dörfern sogar Hilfe erhalten können. Wie aber herausfinden, wer Freund war und wer Verräter? Menschen, die einen Gast aufnahmen und ihn danach verrieten, gab es zur Genüge. Die Chancen, einen anderen Ausgewiesenen zu treffen, noch dazu einen ehrlichen, standen zu gering.
Eine Woche lang ernährte ich mich von dem, was ich fand. Die Vorräte, die meine Mutter mir überlassen hatte, gingen allmählich zur Neige und ich sah mich gezwungen, mehr schlecht als recht vegetarisch zu leben. Ich hätte auf die Jagd gehen können, aber dann ergäbe sich das Problem, wie ich das gewonnene Fleisch zubereiten würde, da ich mich nicht traute, ein Feuer zu entzünden.
Nachts war es quälend kalt. Nach drei Tagen hatte ich eine chronische Erkältung und litt unter meinem eklatanten Mangel an Wissen über Heilkräuter. Das wenige, was ich an Arzneien besaß verwendete ich sparsam. Aber auch das ständige auf der Hut Sein und das Fehlen menschlicher Gesellschaft begannen, mir zuzusetzen, und es war offensichtlich, dass ich an meiner Situation, sofern ich überleben wollte, etwas ändern musste.
Doch das Misstrauen ließ mir keine Ruhe. Wie war es möglich, dass ich eine Woche lang unbehelligt durch den Wald lief? Niemand hatte mich eingeholt, war auch nur in meine Nähe gekommen. Kein Mensch war mir begegnet. War es denn möglich, dass sie mit all ihrer Technik nicht in der Lage waren, mich aufzuspüren? Hatte ich so gut Acht gegeben? Oder beobachteten sie mich eventuell bereits und warteten nur darauf, mir eine Falle zu stellen? Wozu aber? Ich war nicht gefährlich genug, dass derartiges nötig gewesen wäre. Vielleicht hatte ich auch Glück und war ihnen schlichtweg egal. Vielleicht hatten sie nur ein Exempel statuieren wollen, indem sie mich von zu Hause fortjagten. Vielleicht spekulierten sie darauf, dass ich mich selbst umzubringen wusste. Doch wer konnte sich dessen sicher sein?
Im Regen unter einer Eiche kauernd fasste ich einen Entschluss. Ich hatte eine Waffe. Mittels derer würde ich mir irgendeine Verkleidung verschaffen, um ein vorerst einziges Mal in ein Dorf zu gehen. Ich wollte die Menschen sehen, wollte ihr Verhalten untersuchen, um weitere Entschlüsse zu fassen. Und ich wollte nach Steckbriefen suchen. Gab es keine, so konnte ich zumindest vorerst davon ausgehen, dass mich nicht jeder suchte. Vielleicht konnte ich mich wenige Male einigen Passanten zeigen, um ihre Reaktion zu beobachten. Kannten sie mich, so würde ich es merken. Kannten sie mich nicht, so war meine gesamte Maskerade nur ein unnötiger Stressfaktor, den ich daraufhin ablegen könnte. Ich wusste nicht, ob ich eventuell zu unvorsichtig war, aber der Versuch war mir die eventuellen Risiken wert. Alles war es mir wert, wieder unter Menschen zu kommen und vielleicht zu einer richtigen, warmen Mahlzeit...

Das Glück offenbarte sich mir ein erstes Mal seit langem, als ich mich in die Nähe eines Waldweges begab. Es erschien mir in Form eines alten fahrenden Händlers (auch von diesen gab es seit einigen Jahrzehnten immer mehr, da die Menschen sich inzwischen wieder lieber auf Tauschhandel verließen, als auf das Geld, das sie nicht besaßen), der gerade seinen Weg in das nächste Dorf (mit Namen Kenri) bestritt. Sein Schutt sprang wild auf dem Holzkarren umher, den er selbst mühevoll die schlecht asphaltierte Straße entlang schleppte.
Kurz spekulierten ich, dann kam ich zu dem Schluss, dass ich ihn überwältigen konnte. Ich zog mein Messer und pirschte aus meinem Busch auf ihn zu. Bei dem Lärm den der Krimskrams verursachte, welchen er umständlich auf seinem Vehikel festgezurrt hatte, hörte er nicht einen meiner Schritte. Es waren nur noch wenige Meter zwischen mir und ihm, als mich kalter Zweifel packte. Noch nie zuvor hatte ich einen Menschen getötet. Woher wollte ich mir das Recht nehmen, es mit diesem Unschuldigen zu tun?
Da wandte er sich plötzlich um und sah mich an.
Unverzüglich verschwand das Messer hinter meinem Rücken. Überrascht blieb ich stehen und er tat es mir gleich.
Er musterte mich freundlich lächelnd, dann nickte er mir zu.
„Auch auf dem Weg ins Dorf“, sprach er mit altersbrüchiger Stimme.
„Ja“, antwortete ich schnell und versuchte, mein Stocken zu verbergen. Es war das erste Mal seit elf Tagen, dass ich jemanden zu mir sprechen hörte.
„Nun denn. Wollen wir nicht ein Stück zusammen gehen?“, fragte mich der Alte, „Der Weg ist viel kürzer, wenn man jemanden hat, um sich mit ihm zu unterhalten.“
Nach einem weiteren überraschten Stocken nickte ich blass. Er lächelte und setzte sich schwerfällig wieder in Bewegung. So auch ich, schweigend und mich insgeheim fragend, welchen Plan das Universum nun mit mir hatte.
„Sie sind so blass, Kind. Ist Ihnen nicht gut?“
„Doch, doch“, erwiderte ich und riss mich zusammen. „Nur etwas erschöpft. Die letzten Tage waren...ermüdend.“
„Tatsächlich?“, fragte er schmunzelnd, „Sie müssen weit gereist sein. Woher kommen Sie?“
Ich wollte schon antworten, als ich mich anders besann. „Birken“, ersponn ich, „Das ist ein Kleines Dorf weiter im Westen.“
„Bei Arkami?“, fragte er.
„Ja genau“, kam meine Erwiderung, „Und Sie? Woher kommen Sie.“
Der Alte lächelte müde: „Ich ziehe von Dorf zu Dorf, Kindchen. Ich bin so weit gekommen, dass ich gar nicht mehr genau weiß, woher ich eigentlich stamme. Aber meine Stadt, Fräulein, das müssen Sie mir glauben, war ein phantastischer Ort. Leider habe ich...nie den Weg zurück gefunden...“
Verdutzt sah ich ihn an. „Warum haben Sie niemanden gefragt?“
„Das habe ich, das habe ich“, erwiderte er leise, „Aber die Leute sahen mich an, als hätten sie noch nie von dem Ort gehört.“
Fasziniert betrachtete ich ihn. Irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor. Es war, als würde ich jemandem begegnen, dem ich einmal begegnet war und den ich dann vergessen hatte.
„Eigentlich“, weckte er mich aus meinen Gedanken, „versuche ich nur, nicht weiter aufzufallen.“
Und sah mich an. Seine steingrauen, uralten Augen sahen mir direkt in die Seele. Sie waren älter, als sein Körper erschien, wässrig und stumpf. Aber tief in ihrem Inneren erkannte man einen Funken von etwas, was man nur erahnen konnte.
Eine Weile gingen wir schweigend weiter, während meine Gedanken sich ausleerten und es mir erschien, als hätte sich in meinem Leben nie etwas geändert.
„Soll ich Ihnen beim ziehen helfen?“, fragte ich dann unvermittelt.
Er lächelte zufrieden: „Wie heißen Sie, Fräulein?“
„Zimt“, erlog ich rasch (Derart ausgefallene Namen waren etwa neunzig Jahre zuvor modern geworden und hatten sich nicht wieder austreiben lassen. Meine Großmutter hieß Lampia), „Zimt Kandessa.“
Sein Lächeln wurde noch weiser und für einen Moment dachte ich, dass er meine Schwindelei durchschaute.
„Lokin“, antwortete er dann, „Es ist mir eine Ehre, Ihre freundliche Hilfe anzunehmen, Fräulein Zimt Kandessa.“
Den ganzen Weg über, indem ich ihm dabei half, seinen schweren Karren voranzubringen, sprach er mich nicht ein einziges Mal mehr auf meine Vergangenheit an. Wir waren zwei verirrte Wanderer. Lokin Peskan, der seine Herkunft vergessen hatte, und ich, die ich sie verleugnete. Es gab keine Vergangenheit mehr. Von jetzt an ging mein Blick nur noch nach vorn. Und das musste er auch. Mehr, als ich es zu diesem Zeitpunkt noch vermutete. Denn in der unsichtbaren Ferne erhoben sich bereits die ersten Rauchschwaden in den azurblauen Himmel.