von Sir John
„Ich komme vom Amt für individuelle
Lebensplanung und habe in einer wichtigen Angelegenheit mit Ihnen zu
reden. Dürfte ich bitte eintreten?“
„Ja, natürlich.“
Leicht verwirrt mache ich der ganz in
grau gekleideten Dame Platz und folge ihr dann ins Wohnzimmer.
„Setzen Sie sich.“
„Danke.“
Sie lässt sich auf einem meiner
Wohnzimmersessel nieder und ich lasse mich in den ihr gegenüber
fallen. Bei näherer Betrachtung fällt mir auf, dass die
schätzungsweise 40-jährige Frau nicht nur grau gekleidet ist. Auch
der Gesamteindruck dieser Person wirkt irgendwie grau, so eintönig
und trist. Das Gesicht ist nicht hässlich, sondern vielmehr
nichtssagend, so als würde sie alles, was sie sieht nur beiläufig
registrieren und nichts davon wirklich wahrnehmen oder ihm Beachtung
schenken. Ich versuche, ihr in die Augen zu sehen, aber ihr Blick ist
auf einen Aktenstapel gerichtet, den sie inzwischen hervorgezogen
hat. Endlich, den Blick immer noch auf den Akten, beginnt sie zu
reden.
„Das Amt für individuelle
Lebensplanung hat es sich zur Aufgabe gemacht, jedem Bürger der
Bundesrepublik Deutschland einen geordneten Lebensweg zu ermöglichen,
um individuelles Glück zu erreichen, zu fördern und nach
wirtschaftlich sinnvollen Maßstäben zu verteilen. Zu diesem Zweck
führen wir zur Zeit eine große Überprüfung der Lebenswege der
volljährigen Bevölkerung der Bundesrepublik durch. Ich bin mit
ihrem Fall betraut worden und bin bei meiner Arbeit auf einige
Ungereimtheiten gestoßen.“
„Bahnhof. Koffer klauen.“ ist
alles, was ich verstehe. Hat sie jetzt gesagt, warum sie hier ist,
oder hat sie das nicht?
„Wenn meine Unterlagen stimmen, sind
Sie hier in der Stadt zur Grundschule gegangen, und zwar von 1988 bis
1992?“
„Ja, das stimmt“
„Sie haben am Ende ihrer Schulzeit
von ihren Lehrern die Empfehlung für die Fortsetzung ihrer
schulischen Laufbahn an einem Gymnasium erhalten?“
Ich bestätige auch dies.
„Im Rahmen meiner Verpflichtungen als
ihre persönliche Lebensplanerin habe ich die Stationen ihrer
schulischen Laufbahn überprüft. Bei einer Rücksprache mit der
Leiterin ihrer ehemaligen Grundschule stellte sich heraus, dass diese
Empfehlung auf einem Fehler beruht. Man hat nachträglich
festgestellt, dass sie mit einem anderen Kind verwechselt wurden.
Ihre schulischen Leistungen im Alter von sechs bis zehn Jahren
rechtfertigen keinen Besuch einer höheren Schule.“
Ich stutze. „Aber ich habe mein
Abitur doch bestanden. Wen interessiert dann noch die Empfehlung der
Grundschule?“
„Das sehen Sie falsch. Sie können
das Abitur nicht bestanden haben. Laut Aussagen ihrer staatlich
geprüften Lehrkräfte in der Grundschulzeit waren Sie dazu nicht in
der Lage. Ihre Zeit am Gymnasium wurde für ungültig erklärt,
selbstverständlich inklusive aller daraus resultierenden und darauf
aufbauenden sowie der damit in Verbindung stehenden Erfolge.“
Ich bin fassungslos. „Wollen Sie
damit sagen, mir wird mein Abitur aberkannt?“
Die Dame vom Amt für weißnichwas
schüttelt den Kopf. „Sie verkennen die Situation. Ich habe mir
erlaubt, einen dezidierten Lebenslauf für Sie zu erstellen. Hier ist
nicht nur Ihr schulischer und beruflicher Werdegang verzeichnet,
sondern auch Ihre persönliche Entwicklung. Ich werde Ihnen anhand
dieses Dokuments die Folgen Ihrer Rückstufung erklären.“
Der Lebenslauf, den sie mir gezeigt
hat, hat bestimmt tausend Seiten. Was sie jedoch jetzt hervorholt
scheint eine Kurzfassung zu sein, ein Schnellhefter voller Papier.
Sie tippt an eine Stelle im ersten Viertel des Hefters. „Sehen Sie,
hier ist Ihr Übergang zum Gymnasium. Ab hier müssen wir die Dinge
in Frage stellen. Zum Beispiel das hier. 'lernte seinen späteren
guten Freund Bernd L. kennen'. Wir sind uns ja wohl einig, dass das
ohne ihre Zugehörigkeit zu dieser Schule nicht passiert wäre.“
„Na und? Das kann ja wohl keiner
rückgängig machen. Bernd und ich sind bis heute Freunde und das
werden wir auch bleiben.“
„Ich fürchte, sie irren sich.“
Frau Grau rückt ihre Brille zurecht. Erst jetzt fällt mir auf, dass
sie überhaupt eine Sehhilfe trägt. „Herr L. War bis gestern Abend
ihr Freund. Wir haben ihn bereits kontaktiert, er kennt Sie nun nicht
mehr.“
Ich springe auf. „Das kann nicht
sein! Das funktioniert so nicht!“ Fahrig fingere ich mein Handy
hervor und suche im Speicher nach Bernds Nummer. „Ich hab sie doch
eingespeichert... Ich hab ihn erst vorgestern angerufen...“
„Sie haben seine Nummer nicht.“
Lässt sich meine Besucherin vernehmen. „Er hat sie Ihnen nie
gegeben und daher haben Sie sie auch nie eingespeichert. Im übrigen
haben sie auch nie mit Herrn L. telefoniert, auch vorgestern nicht.“
Ich lasse mich wieder in den Sessel
fallen. Das ist echt zu viel für mich. Das wäre für jeden zu viel.
„Es geht noch weiter“ fährt die
graue Frau unbarmherzig fort. „Sie nahmen dann Gitarrenunterricht,
zwei Jahre lang.“
„Das war außerhalb der Schule“,
beeile ich mich, einzuwerfen. „Das hat nichts mit der ganzen Sache
zu tun.“
„Ich fürchte schon.“ Lässt sich
die Frau auf meinem Sofa mit unerträglicher Langeweile in der Stimme
vernehmen, „Schließlich haben Sie auch den Jungen, der Sie auf die
Idee gebracht hat, das Gitarrespiel zu erlernen, auf der Schule
kennengelernt. Und es kommt noch ärger.“
Ich blicke auf ihre Hände, die sich
einen Kugelschreiber gegriffen haben. Jeder Punkt, den sie mir
aberkennt, wird säuberlich aus der Liste gestrichen. Schon sieht
mein Lebenslauf gar nicht mehr so lang aus.
„In der Schule haben Sie oft Ärger
mit ihren Mitschülern gehabt. Sie hatten nur wenig Freunde in der
Schule, was dazu führte, dass Sie sich mehr und mehr an
außerschulische Freunde banden. Nur dieser Nähe zu Freunden, die
Sie noch aus ihrer frühen Kindheit kannten, ist es zu verdanken,
dass eine dieser Freundinnen, Josephine K., Sie aufforderte, sie auf
eine Jugendfreizeit nach Schweden zu begleiten. Und wen lernten Sie
dort kennen?“
„Nein.“ Ich bin außer mir. „Nein,
das können Sie nicht...“
„Wie ich aus Ihren Reaktionen
schließe, haben Sie verstanden. Ich glaube kaum, dass Sie ihre
langjährige feste Freundin Klara F. sonst auf anderem Wege
kennengelernt hätten. Auch Frau F. hat gestern Abend Besuch von
einem Kollegen bekommen.“
„Aber wir haben ein Kind!“ rief ich
verzweifelt. „Sie können dem Kind doch nicht die Eltern wegnehmen!
Das ist unmenschlich!“
„Oh, nein.“ Ich könnte schwören,
dass sich inzwischen ein diabolisches Grinsen auf ihr ansonsten
ausgesprochen emotionsarmes Gesicht gestohlen hat. „Sie haben Frau
F. niemals kennengelernt, also haben Sie auch kein Kind mit ihr. Ihr
Sohn wurde bereits gelöscht.“
„Sie haben ihn umgebracht?“
„Sie missverstehen mich schon wieder.
Man kann niemanden umbringen, der niemals existiert hat.“
Ich breche zusammen. „Aber Sie können
doch nicht einfach mein Leben ungeschehen machen“, versuche ich
einen letzten, kraftlosen Einwand.
„Oh, doch, das geht.“ Die Graue ist
schon wieder in ihre Akten versunken und erklärt dabei in abwesendem
Tonfall:
„Wie Sie hier sehen können beziehen
sich alle ihre Erlebnisse ab der fünften Klasse mehr oder weniger
auf ihre Schule oder hängen davon ab. Da es für uns nicht von
Belang ist, wie entfernt der Zusammenhang erscheint, können wir
guten Gewissens die effizienteste Lösung wählen.“
Sie schaut mir in die Augen.
„Meine Aufgabe hier ist, ihnen
mitzuteilen, dass das Amt für individuelle Lebensplanung beschlossen
hat, ihr Leben ab Mitte des elften Lebensjahres für ungültig zu
erklären. Die zuständigen Gutachter haben entschieden, dass diese
Maßnahme nötig ist, um aufkommende Unordnung in ihrem Leben im Keim
zu ersticken und Ihnen einen geregelten und sicheren Lebenslauf zu
gewährleisten.“ Sie steht auf. „In
den nächsten Tagen werden Sie eine Broschüre mit den Adressen der
führenden Institutionen für Erwachsenenbildung erhalten. Ich möchte
Ihnen dringend empfehlen, ihren Hauptschulabschluss nachzuholen. Ihre
Berufsmöglichkeiten hängen entscheidend von ihrem Bildungsstand ab.
Außerdem erhalten Sie eine Liste ihrer Freunde aus Grundschulzeiten,
zu denen Sie wieder Kontakt aufnehmen könnten. Sonst kennt Sie ja
keiner mehr. Bis auf Ihre Eltern natürlich. Für die sollten Sie
sich eine gute Erklärung dafür zurechtlegen, dass Sie im Alter von
fast 31 Jahren im Leben immer noch nicht mehr erreicht haben, als mit
zehn.“ Mit wenigen Schritten ist die Frau vom Amt an der
Tür. „Auf Wiedersehen und viel Erfolg bei Ihrem zweiten Versuch.“
Sie öffnet die Tür. Den Fuß schon auf der Schwelle stockt sie auf
einmal. „Ach ja, eh ich's vergesse, Sie sollten sich besser nach
einer neuen Übernachtungsmöglichkeit umsehen. Ihr Vermieter hat
auch Bescheid bekommen. Sie haben nie irgendeinen Mietvertrag
unterzeichnet und sind daher auch selbstverständlich nie eingezogen.
Die anderen Räume wurden während unseres Gesprächs bereits
geleert. Um diesen kümmern wir uns, sobald sie diese Wohnung
verlassen haben. Schönen Abend.“