von Mr. Big
Es
ist stickig in der Halle. Ich sitze am Spielfeldrand und lasse den Blick umherschweifen.
Überall bekannte Gesichter, die mir dennoch nichts sagen, da sie fest
entschlossen dreinblicken und mich keines Blickes würdigen. Sie wollen nur die
bevorstehende Erwärmung überstehen. Wer
kann ihnen das verübeln? Bei dieser Art von Erwärmung handelt es sich eher um
eine moderne Form des Gladiatorentrainings. Mit dem Sportgerät bewaffnet,
bearbeiten wir erst den Boden und dann unseren Gegenüber.
Wir
laufen und laufen und laufen. Schweißperlen spiegeln sich auf den Gesichtern
der meisten Teilnehmer wider und brechen das Licht. Die Neonleuchten der Decke
geben ihnen einen erhabenen, glitzernden Umhang. Und wir laufen weiter.
Da
kommt sie reinmarschiert und reiht
sich unter die Läufer ein. War sie
nur kurz weg oder kommt sie zu spät?
Ich kann es nicht sagen. Vielleicht war sie
auch von Anfang an dabei und ich habe es nicht gemerkt. Wobei mir so jemand
auffallen würde…oder? Ich weiß es nicht, es ist mir im Moment auch egal. Ich
habe gerade meinen eigenen Kampf gegen die Kondition zu kämpfen. Denn die
Kondition, die ich nicht habe, will mir
weiß machen ich schaffe das hier nicht. Dabei ist das völliger Blödsinn. So
unsportlich bin ich doch nicht.
Schwups,
da huscht sie an mir vorbei. Mit
elfengleichen Schritten scheint sie vorbeizugleiten, eine Feder im Wind auf
kontrollierten, kreisrunden Bahnen dahineilend. Noch zehn Runden, meint der
Trainer. Das schaffst du nicht, sagt mir meine nichtvorhandene, doch irgendwie
vorhandene Kondition. In solchen Momenten scheint sie Spaß daran zu haben, sich
als Gedankenstimme in meinem Kopf zu manifestieren. Ich würge sie ab. Noch neun
Runden. Acht. Sieben…
Geschafft.
Mein Körper gleitet auf die Sitzbank. Mein Puls stellt neue Weltrekorde auf.
Ich wische mir mit meinem Handtuch die Stirn ab und schaue zur Seite. Sie hat sich zu mir gesetzt. Das hilft
meinem Puls nicht gerade dabei, wieder auf messbare Werte zu sinken. Nur ruhig Großer, sag ich mir. Jetzt bloß
nicht aufdringlich wirken, sie nicht
direkt anstarren. Ihr scheint der Konditionslauf gar nichts angehabt zu haben.
Oder absorbiert ihr gut gebräunter Teint einfach jegliche
Anstrengungserscheinung? Sie nimmt
den Gummi aus dem Zopf und lässt ihr braunes glattes Haar wedeln, bevor sie es wieder nach hinten zieht und
erneut fixiert. Sie scheint total
entspannt zu sein. Ihre ruhige, schlanke
Erscheinung ist das genaue Gegenteil von meiner Erscheinung, welche spürbar
atmend und um Sauerstoff ringend neben ihr sitzt. Wie fies, dass es Menschen
gibt, die Kondition in den Genen haben, denke ich mir. Dann schaut sie rüber. Ich wende schnell meinen
Blick ab.
Bälle
fliegen über das Netz, sausen mit einer beachtlichen Anzahl an Stundenkilometern
heran und klatschen auf das Parkett. Ein
unverkennbares Geräusch. Die Halle quittiert jedes Manöver mit einem hörbaren
Echo. Es ist Angabenzeit. Oder besser gesagt, Angeberzeit. Maskulinität
definiert sich im Volleyball durch Sprunghöhe mal Schlagkraft plus
Coolnessfaktor. Ich belege einen guten Mittelwert. Andere prügeln förmlich auf die
unschuldig anmutenden Bälle ein. Ich muss unvermittelt an Wilson, den
Volleyball aus Cast Away, denken und bekomme Mitleid. Dafür ist aber kein Platz
auf dem Feld.
Im
gleichen Moment steigt ein Riese mit unnatürlich langen Armen auf und drischt
einen „Official Seize and Weight“- Molton-
Volleyball fünf Zentimeter an meinem linken Ohr vorbei. Wer hier nicht aufpasst, wird abgeschossen. Hab
ich diesen Satz gerade gedacht oder hat ihn der Trainer wirklich gesagt?
Egal,
ich bin dran und spiele den Ball zum meinem Steller. Synchron beschreibe ich
einen Halbkreis bevor Netz und Ball näher zueinander finden. Hastig springe ich
mit beiden Beinen ab und vollführende mit dem rechten Arm eine Schlagbewegung.
Der Ball springt auf die Netzkante und flattert von da aus weiter ins Feld.
Bananenförmig bahnt sich das Geschoss seinen Weg. In die Reihen der Wartenden
vor dem Aufschlag. Sie scheint gerade
in einer anderen Welt zu sein. Dann trifft der Ball sie am Kopf. Unangenehm aus
ihren Gedanken gerissen sendet sie böse Blicke zum Urheber der Störung. Kurz
sackt mir mein Herz in die Hose.
Den
sechzig Minuten Erwärmung folgen dreißig Minuten Spiel. Ich bin heil froh, dass
ich soweit noch fit bin, um zu spielen. Es
macht mir nichts aus am Netz zu sein, eine schöne Position, wie ich finde. Du bist quasi der Dealer, der die ankommenden
Bälle an deine Kunden verteilt. Der King auf dem Platz. Master of the Zuspiel
sozusagen. Die Brünette mit dem hübschen Teint steht neben mir und scheint
potentiell gewillt, jeden ankommen Ball in die gegnerische Hälfte zu befördern.
Ich
wittere meine Chance. Sprich sie an. Ganz locker. Dein Team hat Aufschlag und
du alle Zeit der Welt. Meine Gedankenstimme von vorhin meldet sich wieder:
Macht jetzt bloß nichts
falsch, Alter.
Doch
wie schwer kann es sein? Den ersten Schritt zu machen dürfte doch eigentlich in
der Gunst der Sekunde liegen. Ich verlangsame kurz die Zeit an, um
nachzudenken.
Der
erste Schritt ist bekanntlich der Schwerste. Andererseits ist jeder weitere nur
noch eine reine Selbstverständlichkeit. Wie schwer kann es also sein?
Sauschwer. Bockschwer.
Doch
alle großen Abenteuer haben einmal mit dem ersten Schritt angefangen. Columbus,
als er zum ersten Mal seinen Fuß von der Planke seines Ruderbootes nahm und auf
die Sandstrände der karibischen Inseln setze. Oder Neil Armstrong, als er den
wohl bedeutendsten Schritt aus der Apollo 11- Kapsel auf bisher unbekanntes
Terrain machte und somit neue Dimensionen von Träumen ermöglichte. Es ist nur
ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Schritt für die
Menschheit. Was hatten diese beiden
Entdecker, diese beiden Abenteurer gemeinsam? Sie hatten es geschafft den
ersten Schritt von vielen zu tun, um in neue Gegenden und Sphären aufbrechen zu
können. Um neue Welten zu erschließen, neue Welten zu ermöglichen. Dabei war nicht überliefert, wie groß dieser
erste Schritt war, es könnte auch ein ganz kleiner, zögerlicher gewesen sein.
Doch das war auch egal, er war getan und damit war er gemacht.
Ich
tue einen kleinen Schritt in die richtige Richtung und schaue sie an.
Gleichzeitig führt ein Synapsenfeuer in
meinem Kopf dazu, dass sich mein Puls merklich beschleunigt und mein Herzschlag
wie der Ofen einer Dampflokomotive zu pochen beginnt. Armstrong hatte für den entscheidenden Moment
die richtigen Worte parat gehabt. Von Kolumbus weiß ich nicht, ob er was Cooles gesagt hat.
Dennoch scheinen mir jetzt selbst einfachste grammatikalische Konstruktionen
unangemessen, während mein Blick sie fixiert,
während ihr Blick dem Ball gilt. Jetzt oder nie. Nur was sagen? Abgedroschene
Phrasen fluten mein Zwischenhirn und blockieren jegliche kreative Zone, die ich
da mal in der Nähe vermutet habe. Kleine
Schritte, denke ich. Kleine Schritte machen. Also entscheide ich mich für ein
einfaches
„Hallo, na alles klar?“
Dummkopf,
Dummkopf, Dummkopf schreit es mich innerlich an. Seit wann gibt es eigentlich
diese Stimme in meinem Kopf?
Sie
wendet mir ihr Gesicht zu. Nussbraune Augen ruhen auf mir und in diesem Moment
verfluche ich alle ersten Schritte, die je ein Mensch getan hat. Armstrong ist
sicher auf der Mondoberfläche abgefedert, hatten seinen Stiefelabdruck
hinterlassen und sich dabei den kleinen Zeh geprellt. Kolumbus ist bestimmt in
einen Seeigel getreten und hat wunderschön auf Spanisch geflucht. Oder auf Italienisch.
War der nicht Italiener? Ach was weiß ich!
Sie betrachtet mich für eine
Millisekunde und lässt damit eine Welt entstehen, in der alles möglich ist.
Tausend mögliche Zeitlinien spinnen sich in meinen Gedanken zusammen und
verflüchtigen sich genauso schnell, wie sie gekommen sind, als sie die Worte sagt:
„Hm, ganz gut soweit. Ich fühle mich ein
wenig unterfordert auf dieser Seite. Kannst du mir den nächsten Ball zu
spielen?“
Dann
zwinkert sie mir zu. Doch nicht nur irgendwie.
So richtig eben. Und legt dabei viel mehr in diese kleine Geste, als sie
eigentlich transportieren kann. Der Eisberg in mir schmilzt, der bis dahin
jeglichen klaren Gedanken festgehalten hat. Er zergeht wie Butter auf einer
heißen Pfanne. Meine Hypophyse feuert Endorphine durch alle Hirnwindungen und
weckt in mir ein urtypisches Gefühl von Glück, wie ich es schon lange nicht
mehr gespürt habe. Ich nicke ihr zu und sage:
„Ja, darauf habe ich mich
schon das ganze Training lang gefreut.“
Und
sie beginnt zu lächeln und ich beginn zu lächeln. Apollo 11 ist gelandet, der
Astronaut hat die Kapsel erfolgreich verlassen. Das Regolith unter den Füßen hinterlässt
eine wunderschöne kleine Staubwolke. Der erste Schritt auf neues Gebiet ist
geglückt. Kolumbus lächelt. Der Sand unter den Füßen fühlt sich toll an. Es kommt nicht auf die Größe des Schrittes an,
den man macht. Es kommt darauf an ihn zu machen. Und manchmal tut es auch ein
kleiner Schritt. Denn auch solche Schritte müssen gemacht machen und erfordern
Mut. Das ist der Weg zum Erfolg, denke ich mir und bereite mich mit einem guten
Gefühl auf den nächsten Aufschlag vor.