oder: Ein Tag im
Leben eines glücklichen Menschen
von Sir John
Morgens um 7. Mein Wecker
klingelt. Ich schlage meine Augen auf und höre dem kleinen Nervtöter
zu, wie er erst meine Lieblingsmusik spielt, um danach zu beginnen,
mir meine Pläne für den heutigen Tag vorzulesen. In dem Moment, in
dem ich wach genug bin, um aufzustehen und es auszuschalten,
beziehungsweise, um es wutentbrannt gegen die Wand zu feuern,
verstummt das Gerät. Ich stehe auf und gehe zum Kleiderschrank. Kurz
bevor ich ihn erreicht habe, kommen mir aus einem Schlitz in der
Schranktür eine Jeans, eine Unterhose, ein T-Shirt von einer meiner
Lieblingsbands und Socken entgegengepurzelt. Ja, mein Mobiliar kennt
mich. Ich überlege. Kann man den Schrank überhaupt öffnen? Von
außen sieht er aus, als könne man, aber ich hatte schon seit Jahren
keinen Anlass mehr, es zu probieren.
In der Küche steht
bereits eine Tasse Kaffee bereit. Ich grüße kurz in die
Überwachungskamera, eine Gewohnheit, vor Jahren einstudiert, als die
Komplettüberwachung noch neu war.
Damals konnte ich auch
noch bestimmen, wann mein Fernseher läuft. Und wo er steht. Seit ich
eingetreten bin unterhält mich das Ding mit einer Vielzahl an exakt
auf meine Bedürfnisse zugeschnittenen Werbespots. Irgendwo
dazwischen, gut in Produktinformation verschiedenster Art verpackt,
muss es wohl auch soetwas wie Nachrichten geben. Man muss aber schon
sehr genau hinhören. Meine Freundin benutzt die Werbung immer, um
Einkaufszettel zu schreiben. Normalerweise weiß unser Fernseher
besser, was wir brauchen, als wir selbst.
Nach dem Frühstück
verlasse ich das Haus. Über der Eingangstür prangt groß das
Google-Logo. Ein Komplettsystem mit zugehöriger Einrichtung. Jeder
hat eins. Es gibt keine anderen Häuser mehr. Ich setze meinen Weg
zur U-Bahn fort. Die fliegenden Kameras, die mir auf Schritt und
Tritt folgen, beachte ich gar nicht. Sie sind wie Mücken, nur dass
sie nicht stechen. Jedenfalls nicht so oft, nur einmal in der Woche,
zur Blutprobenentnahme.
Ihr fragt euch, was hier
los ist? Ach ja, ihr seid geschichtlich nicht ganz auf dem neuesten
Stand. Wir schreiben inzwischen das Jahr 2057. Seit 2013 hat sich
einiges getan. Google hat Facebook aufgekauft und anschließend
angefangen, den verschuldeten Staaten Land abzukaufen. Die NSA hat
die Gunst der Stunde erkannt. Die gesamte Belegschaft bot Google ihre
Hilfe an und wie auf die große Erfahrung im Bereich der „Verwaltung
von Fremddaten“ hin, die Google, nunmehr Inhaber der größten
Menge privater Daten von Internetnutzern auf der ganzen Welt,
dringend brauchte. Das Riesenunternehmen schluckte also auch die NSA
unter Beibehaltung aller Arbeitsverhältnisse. Als kleinen Bonus
brachten die neuen Mitarbeiter gleich sämtliche streng geheimen
Daten mit, die auf ihren Festplatten gespeichert waren. Als die
anderen amerikanischen Geheimdienste davon Wind bekamen sahen sie
auch, dass ihre Regierung gegen dieses gigantische
Enthüllungspotential kaum eine Chance hatte. Auch sie liefen über,
gefolgt von sämtlichen Streitmächten der einstmaligen Großmacht.
Daraufhin ergaben sich die USA kampflos dem Riesenkonzern. Der kaufte
weiterhin ganze Länder auf, bis der klägliche Rest der
Weltgemeinschaft sich dem neuen Imperium freiwillig anschloss. Die
geballte Macht aller Geheimdienste, die ja außer den eigenen Bürgern
niemanden mehr zum bespitzeln hatte, verbündete sich nun mit dem
größten Datenstaubsauger der Welt, der sich zwischenzeitlich noch
mit weiteren sozialen Netzwerken gestärkt hatte, um nun, da
sämtliche politische Gewalt ihm übergeben worden war, einfach das
gesamte Internet zu konfiszieren.
Das Ergebnis ist eine
Überwachung ohne Lücken. Mein Haus beispielsweise sendet nicht nur
stündlich Berichte über meinen Nahrungsverbrauch und
Kleidungsvorliebe an die zentralen Server, auch meine
gesundheitlichen Daten werden erhoben, meine Stimmungen, was ich sage
oder tue, wie ich etwas sage. Mein Bett misst in der Nacht Puls,
Körpertemperatur und noch einige Dinge mehr, mein Urin wird
automatisch analysiert, ständig sammelt das System Daten darüber,
was mir gefällt oder nicht, was ich brauche, aber auch, was man mich
glauben machen könnte, zu brauchen. Es wird gemessen, wie lange ich
welchen Werbespot sehe und wie oft ich meine Freundin „Schatz“
oder „Schnucki“ nenne. Ein Mangel an Zärtlichkeiten verbaler wie
physischer Natur kann schon einmal dafür sorgen, dass ich ab diesem
Moment überall Werbung für Partnervermittlungen begegne. Haben wir
ein paar Nächte in Folge keinen Sex, werde ich ohne Umschweife ans
nächste Bordell verwiesen, wobei auch ein Hinweis auf eine bestimmte
Prostituierte zu finden ist, deren körperliche Merkmale laut einer
Analyse der Dauer meiner Betrachtung verschiedener Werbeplakate mit
leichtbekleideten Frauen, am ehesten meinem Geschmack entspricht.
Selbst das leichte Zögern bei der Wahl der Brotsorte im Supermarkt
wird sofort erfasst, in komplizierten Verfahren in eine messbare
Größe und einen Wert überführt, der die vollautomatisierten
Regale im Supermarkt veranlasst, mir in der nächsten Woche nur noch
Vollkornbrot anzubieten, obwohl ich doch zum Frühstück gerne Toast
hätte. Eine weitere Woche später weiß das System auch dies.
Ich komme ein bisschen zu
spät an der U-Bahn-Station an. Der Zug hat auf mich gewartet. Die
anderen Fahrgäste nehmen die Verzögerung ruhig zur Kenntnis.
Schließlich wurden sie schon heute früh von ihrem Wecker darauf
hingewiesen, dass heute jemand zu spät kommen würde. Ihre
Arbeitgeber wissen auch Bescheid, also alles in Ordnung.
Da Google weiß, wer wann
wohin fahren will, ist der gesamte öffentliche Nahverkehr
durchgeplant. Jeder, der die U-Bahn nimmt, hat auch einen Sitzplatz.
Ich schaue mich um. Ah, da hinten. Erleichtert lasse ich mich auf den
Sitz fallen und beginne mit der Lektüre des Buches, das mir mein
Handy für heute verordnet hat.
Nach einigen Minuten
erreiche ich das Lesezeichen, das mir das System ins Buch gelegt hat.
Das ist für mich das Zeichen, das Buch wegzupacken und aufzustehen.
Als ich die Tür erreiche, hält der Zug gerade und entlässt mich
und einige andere in das klinisch saubere Innere einer
U-Bahn-Station.
Auf dem Weg zur Arbeit
werde ich von meinem Handy daran erinnert, dass ich Lust auf einen
Snack habe. Ich betrachte den Kiosk, an dem ich eben vorbeigehen
wollte. Was soll ich nehmen? Cupcake, Éclair, Donut, Gingerbread?
Oder vielleicht doch lieber ein Ice Cream Sandwich? Die Entscheidung
wird mir abgenommen. Die Verkäuferin hat bereits etwas eingepackt,
reicht es mir herüber und wünscht mir einen schönen Tag. Ich weiß
noch nicht, was ich da jetzt eigentlich habe, aber mit Sicherheit ist
es genau das, worauf ich dann beim Auspacken Lust verspüre.
Gleichgültig schiebe ich die Tüte in meine Tasche.
Ich arbeite in einer
großen Firma im Büro. Meine Aufgabe besteht im Wesentlichen darin,
Stempel auf Papiere zu drücken. Die Papiere wurden vorher bereits
von einem Computer ausgefüllt, ich lese sie nicht einmal mehr durch.
Nicht sehr anspruchsvoll, aber eigentlich hat niemand, den ich kenne,
einen fordernderen Job. Die wirklich schwierigen Sachen werden
ausschließlich von Computern gemacht. Ich bin mir nicht mal sicher,
ob es überhaupt noch einen Menschen am Ende der Befehlskette gibt,
einen, der alles plant. Ist mir im Grunde aber auch nicht so wichtig.
Nach Feierabnd habe ich
noch Einkäufe zu erledigen. Eigentlich sind die Supermärkte sinnlos
geworden. Man könnte den Leuten auch einfach ihre Rationen zuteilen,
etwas anderes kriegt man da auch nicht, aber die Illusion einer
eigenen Entscheidung ist aufregend und der Spaziergang durch die
Regalreihen ein Relikt aus längst vergangener Zeit, das ältere
Menschen wie mich in nostalgische Verzückung versetzt.
Die omnipräsenten
Bildschirme verraten mir durch entsprechende Werbespots, was ich so
brauche. Ich sammele die entsprechenden Dinge ein, ohne weiter
darüber nachzudenken. Jahrelange Gewohnheit. Dann gehe ich zur
Kasse. Die Kassiererin guckt auf ihren Bildschirm, lächelt und sagt:
„Sie haben die Milch vergessen.“ Natürlich hat sie gleich zwei
Schachteln parat und legt sie ohne zu fragen zu meinen Einkäufen.
Auch hier funktioniert die weltweite Cloud. Man kennt mich.
Zuhause lese ich noch ein
wenig. Dann, zur standardisierten Fernsehzeit, schalte ich das Gerät
ein und lasse mich berieseln. Keine Ahnung, was läuft.
Nach dem üblichen
Zubettgehritual winke ich noch einen Abschiedsgruß in die
Schlafzimmerkamera. Auf meinem Nachttisch liegen Schlaftabletten. Das
System hat meinen Tagesablauf analysiert und festgestellt, dass ich
sie brauchen werde. Na dann, runter mit dem Zeug. Morgen wird wieder
ein wundervoller Tag.
Zurück im Jahr 2013.
Vorhin erreichte mich eine Nachricht über die Website des Hessischen
Rundfunks. Die Facebookseite einer geplanten Anti-Prism-Demo wurde
ohne Ankündigung gelöscht. Aha. Facebook und Prism.
Die Verschmelzung hat
begonnen.