MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Donnerstag, 19. September 2013

Enge

von Sir John

Gehetzt, vereinnahmt steht er da
Ist, wie so oft, der Leere nah,
die er schon in sich fühlte.
Die ihn von innen nun auffrisst
Ein stetiger Begleiter ist
Schon lange in ihm wühlte.

Er hat zwar Arbeit, er hat Geld
Ihm gehört viel auf dieser Welt
Sie liegt ihm gar zu Füßen
Doch fragt er weiter nach dem Ziel
Wonach er strebt? Was er denn will?
Er wird es suchen müssen.

Die Enge hält ihn fest umschlungen
Und aus dem Dunkel fremde Zungen
Raunen ihm zu, dass etwas fehlt
Zu seinem Glück, noch mehr, als Geld
Er müsse noch erwerben
Das höchste Gut auf Erden.

Doch wo es liegt und was es ist,
was er so schmerzlich noch vermisst
das kann ihm keiner sagen.
was er herbeibeschwört, ersehnt,
da hilft ihm auch kein Klagen,
den Ort will er erfragen
obwohl ihn niemand kennt.

So häuft er Güter an und Gold,
was es halt gibt auf Erden,
er muss dess' habhaft werden.
Und alles, was er je gewollt,
bis auf das Eine, dem er folgt
es schafft ihm nur Beschwerden.

„Dabei“, so denkt er still bei sich
„Muss doch im Grunde, eigentlich,
nenn ich die ganze Welt mein Eigen
auch, was ich brauch mir endlich folgen
und mir fortan gehören.
Dann hab ich endlich, was mir fehlt.
Dann ist bei mir das Glück der Welt“
So ließ er sich betören.

In dieser Hoffnung ist der Mann
Seitdem am Raffen, aber dann
Wird er für immer häufen
Und doch niemals begreifen.

Denn Enge kommt nicht durch zu wenig
Wenig schafft Platz, macht frei.
Ein leerer Raum ist frei, gefüllt zu werden
Ein volles Zimmer kann man höchstens leeren
und dann ist wieder Platz, um zu bescheren…
Alles muss fort, was uns zu Lasten sei!

Und so fühle auch ich mich hier gefesselt,
es drückt mich, quetscht mich, engt mich ein und dann
muss ich wohl irgendwann begreifen
dass keiner mir, wenn’s nicht ich selbst bin, helfen kann.
Noch fühl ich mich den Menschen fremd, noch will ich weg von ihrer Seite
Noch streite
Ich ab, Verantwortung für mich zu tragen.
Doch, sollt ich’s wagen
mir einmal selbst die Enge zuzuschreiben,
die immer wieder mich gefangen hält,
so würd‘ sich diese Haltung eignen
mir selbst den Frohsinn zu verbreiten
den anzunehmen mir so schwierig fällt.

Und dennoch fürchte ich die Leere,
die ich mir selber auferlegen müsst‘.
Ohne zu ahnen, dass, wess' ich mich wehre
Nicht Leere sondern Überfülle ist.

Doch nun ist es schließlich so weit,
jetzt ist es endlich an der Zeit
mich nicht mehr selbst zu quälen
und nunmehr euch zu stellen.
Ja ihr, die ihr da sitzt und lauscht
und Geld gegen Zerstreuung tauscht
seid ihr denn innerlich dabei,
ich meine, seid ihr frei?

Gerade seid ihr noch vergnügt,
doch Mancher, der zu Hause liegt
fühlt, dass es eine Stelle gibt
in seinem Herz, die ihn betrübt.
Auch ihr seid innerlich verklettet
und habt die Herzen angekettet,
ihr sucht nach mehr, wenn ihr grad spürt
dass etwas euch zu tief berührt
zu schmerzhaft, ums zu ignorieren.
So lasst auch ihr euch oft verführen,
es einem andern anzulasten
oder schnell dran vorbeizuhasten.

Dabei haben doch viele Kümmernisse
die Ursache nicht außerhalb, nur innen.
Um ihnen folglich zu entrinnen
braucht's nur den Mut, sie selber zu bezwingen.
Zwar brauchst du manches Mal die Trauer
sie heilt dich, hilft dir, legt die Hände auf,
doch sei sie jedes Mal von kurzer Dauer
denn nach bergab geht’s irgendwann bergauf.
Nur, auf dem langen und gewundnen Pfad des Lebens
musst du dir deine Steigung manchmal selber baun.
Du musst dich selbst befrein vom Kummer deines Weges
um irgendwann vom hohen Berg zu schaun.

So folgt, wenn du sie wieder spürst, die Fessel,
und sie erdrückt dich und sie schnürt dich ein,
bleib nicht zu lange Sklave deiner Trauer.

Atme nur und...beschließe, froh zu sein!

Mittwoch, 18. September 2013

Ich bin nicht hier


Ich wollte nur einmal bekannt geben, dass ich eigentlich gar nicht da bin. Will heißen, dass ihr mich für meine Fehler nicht zu verurteilen braucht denn es sind eure Fehler. Ich habe lange nach dem Fehler in mir gesucht und bin zu dem Schluss gekommen, dass mein Hauptproblem darin besteht, dass ich lediglich das Abbild eines Vertreters der modernen Gesellschaft bin. Um es mal so zu sagen: Ich imitiere euch lediglich. Wenn man es mal so betrachten will, bin ich lediglich eine von vielen Masken und hinter jeder dieser Masken verbirgt sich das selbe Gesicht. Ich bin kein Individuum, sondern lediglich ein Gegenstand, ein Werkzeug für die Handlungen, welche sich hinter dem Vorhang befinden, den keiner sich traut zur Seite zu schieben. Oder: Es trauen sich schon welche aber die sind dann entweder verrückt oder verfassungsfeindlich. Jedenfalls bin ich hier um meine Aufwartung zu machen und mich offiziell als nicht existentes Wesen in die Liste eintragen zu lassen. Kann sich jemand vorstellen wie viel Arbeit es macht sich jeden morgen aufs neue zu materialisieren? Und nicht zu vergessen sich Mühe zu geben, dass man möglichst genau so aussieht wie am Vortag? Ich meine: Wie würdet ihr reagieren, wenn mir plötzlich ein Ohr fehlt nur weil ich es im Eifer vergessen habe. Oder noch schlimmer: Wenn ich vergesse meinen Mund an die entsprechende Stelle zu setzen: Ich könnte euch keine Antwort mehr auf die Frage nach der Uhrzeit oder dem Ergebnis von eins und eins geben. Ich würde schweigen. Und ihr würdet reden und reden ohne zu bemerken, dass ich gar nicht sprechen kann. Ihr würdet mich als verrückt erklären. Und ich würde es stillschweigend hinnehmen. Auf der anderen Seite habe ich aber auch gar nichts zu sagen. Dafür erhalte ich ja nicht das Recht auf meine Existenz. Dieses Recht erhalte ich dadurch, dass ich zunächst mal diesem Staat angehöre, dann dass ich Arbeite, was an und für sich nicht stimmt, da Ehrenamt nicht als Arbeit zählt. Ich verdiene meine Existenz durch das erwirtschaften von Kapital, ich verdiene meine Existenz durch das zeugen von biomechanischen Individuen, die ebenfalls kein Individuum sondern vielmehr ein Werkzeug sind. Ein Teil des Kreislaufs, eines stark verformten Kreislaufs, der spitze Ecken und Kanten aufweist. Spricht man jedoch von diesen Ecken und Kanten, so wird man als verfassungsfeindlich beschimpft. Du musst alles lieben, was dir vorgegeben wird. Allerdings würde ich dies als eine paradoxe Art der Paraphilie bezeichnen. Entschuldigt dieses Wortspiel. Es kam mir gelegen. Ich möchte auf dieses Thema jetzt nicht weiter eingehen, denn ich bin ja kein Papst. Wenn man es genau nehmen will, sind wir seit einiger Zeit kein Papst mehr. Ich achte die Erfinder der Aussage: Wir sind Papst, denn sie haben bereits vor mir erkannt, dass wir alle das gleiche sind. Mich ausgenommen, da es mir schwer fällt meine Existenz zu beweisen. Es heißt ja: Ich denke also bin ich! Aber so verwirrend das jetzt auch klingen mag, ich denke, dass ich gar nicht denke. Ich rede also bin ich das Produkt der fantastischen Gedanken eines Anderen. Vielleicht sogar von einem von euch? Doch das glaube ich nicht. Ich denke, dass jemand mir denken macht, dass ich denke, dass ihr denkt, dass ich auf wirtschaftliche oder politische Machthaber anspiele. Doch ich denke, dass mir jemand denken macht, dass ich das nicht will. Ich denke, dass jemand mir denken macht, dass diese Machthaber auch nur Marionetten sind, dass wir alle nur teil eines ungeschickten Schachzuges sind. Vielleicht aber auch eines geschickten. Wer weiß denn was Jemand zu bezwecken versucht? Ich weiß gar nicht wer Jemand ist, doch ich glaube, dass Jemand existiert. Ich weiß nicht, wer so verrückt ist, dies zu tun. Das weiß nur Jemand. Doch Jemand hat mich aufgegeben, denn Jemand spricht nicht mit mir, was ihn zu Niemand macht, was wiederum bedeutet, dass Jemand nicht existiert. Ich existiere nicht also könnte ich Jemand sein. Ist damit meine Existenz bewiesen?



Ich bin (nicht) hier um Verwirrung zu stiften.

Victor Ian Clockwork
18.09.2013

Dienstag, 17. September 2013

Die Stimme des Meeres




Von Mr. Big

I

Inseln über dem Winde, Atlantischer Ozean (Karibik)

Der Ozean ist klar und ruhig. Ein Junge sitzt am Steg, die Beine im Wasser baumelnd, und schaut in die Ferne. Folgt man seinem Blick, so könnte man meinen, dass er wie verzaubert von den Wellen ist, die sanft über seine Füße streicheln. Doch dieses Auf und Ab, die ruhige See, ist nicht von Belang. Nur der Horizont erweckt seine Sehnsucht. Dort wo das azurblaue Meer in den nur wenige Nuancen helleren Himmel aufgeht, und es fast so aussieht, als trenne diese Linie zwei Welten voneinander, die eigentlich zusammengehören. Ruhig und ausdauernd sitzt er da und hört dem Rauschen der Wellen zu. 

Ein älterer Mann mit grau meliertem Bart, dessen Zenit schon längst überschritten ist, kommt dahergelaufen. Seine Füße schleichen über den abgetretenen Trampelpfad. Der Pfad verbindet zwei kleine Provinzdörfer, Heimat weniger Hundert Seelen, miteinander. Auf der Insel, so sagt man, gibt es nicht viel mehr als diese beiden Fischerdörfer, ihre Einheimischen und den Dschungel. Ein Fleck unberührter Natur inmitten des atlantischen Ozeans. Der alte Mann stützt sich schwer auf dem Gehstock, den er mit sich führt. Der lange Bart und das schneeweißes Haupthaar bewegen sich leicht, als eine kleine Brise über das Ufer weht. Das Frohgefühl des Gehers haftet auf seinem zerfurchten Gesicht. Und wie er da so entlangschlendert, bemerkt er den Jungen, der alleine am Steg sitzt und auf das Meer schaut. 

Was er wohl beobachtet, fragt sich der alte Mann. Vielleicht die Lachse, die immer mal in kurzen Sprüngen dem Wasser zu entkommen versuchen oder vielleicht die Möwen, die sich das Spektakel von einem Fels in der Nähe aus anschauen. Seine Neugierde ist geweckt, er beschließt zu dem Jungen zu gehen.

„Hallo, mein Junge. Na, ist das Meer nicht wunderschön?“  sagt der Alte, als er auf den Steg tritt. Er spricht ruhig und freundlich, mit tiefer brummiger Stimme. Der Junge scheint ihn erst gar nicht zu hören. Er ist weit entfernt, in einer anderen Welt. Nur widerwillig wendet er sich dem Alten Mann zu. Im Gesicht des Jungen sind Spuren von Wehmut zu erkennen. Wortlos verharren sie am Steg. „Heute ist die See friedlich. Wir haben klare Sicht. Ein ideales Fischerwetter. Oder um die Fische zu beobachten. Schaust du nach den Fischen, mein Junge?“

Der Junge antwortet nicht. Er wendet seinen Blick wieder dem Meer zu. Es vergeht eine kleine Ewigkeit. Dann schüttelt er langsam den Kopf.

„Nach was schaust du denn? Schaust du die Möwen an, wie sie über das Wasser gleiten? Prächtige Schwingen haben die Tiere.“

Erst keine Regung, dann ein Kopfschütteln. Der Alte überlegt.
„Sag Junge, wartest du auf jemanden?“ 

Plötzlich heften sich die Augen des Jungen an die seinen. Wie alt er wohl sein mag, fragt sich der Mann. Neun, höchstens zehn Jahre, wenn es hochkommt. Zu jung, um solche  Zeichen in sich zu tragen. In den blauen Augen entfaltet sich ein Meer der Hilfslosigkeit und Trauer, wie es der Alte noch nie zuvor gesehen hat. Eine trügerische Stille legt sich über den Strand. Keiner von beiden spricht ein Wort. Die Blicke verharren aufeinander, immer noch spiegeln sich zwei Seelen darin. Dem Mann wird unwohl, denn was er in ihnen sieht, beunruhigt ihn zutiefst. 

Dieser Blick, wie kann ein junger Mensch so viel Trauer in sich tragen?

Schweigend schnappt er seinen Gehstock und steht auf. Er wirft dem Jungen einen letzten Blick zu. Dann begibt er sich wieder zu dem Pfad.

II

Wieder auf dem vertrauten Weg angekommen,  ist es nicht mehr weit bis zum Dorf. Das Herz der Insel schlägt hier vor sich hin. Man erblickt einfache, dicht aneinandergereihte Arbeiterhütten. Manche bestehen nur aus ein paar Bambusstäben und Stroh. Je weiter man ins Zentrum vordringt, je öfter tauchen Behausungen aus Lehm und Stein auf. Einige besitzen sogar Ziegeldächer. Ihre kaminrote Farbe glänzt sanft im Sonnenlicht. 

Eigentlich sollte auch der Alte dies sehen, doch er nimmt nichts davon wahr. Der Blick des Jungen verfolgt ihn in seinen Gedanken und lässt ihm keine Ruhe. 

Du hast diese Augen schon einmal gesehen. Vor nicht allzu langer Zeit. 

Eine Kirchturmglocke läutet und befördert ihn zurück in die Realität. Er hat jegliche Orientierung verloren. Hastig schaut er sich um, erkennt Häuser, Dächer, Gassen und vor ihm eine Tür. Was war noch mal der Grund gewesen, weswegen er aufgebrochen war? Er weiß es nicht mehr. Irgendwas scheint ihn hergeführt zu haben. Er betätigt die Klinke und tritt ein. 

Es ist eine alte Spelunke. Durch die Fenster schleichen Lichtfetzen in den Raum und lassen einen schaurigen Schein zurück. An einem Tisch sitzen drei Matrosen. Sie sehen sehr mitgenommen aus und unterhalten sich eifrig. Ihm kommt der Gedanke, dass sie womöglich etwas über den Jungen wissen könnten. 

„Entschuldigung meine Herren, haben sie den Jungen am Steg bemerkt? Wissen Sie, wer er ist?“ 

„…pssst, kein Wort jetzt. Wie ich es dir gesagt habe!“, spricht der Erste. Der Alte Mann schaut etwas verdutzt.

 „Wieso? Denkst du, wenn wir nicht über ihn reden, bringt ihn das zurück?“, fragt der Zweite.

„Es bringt ihn nicht zurück und nimmt auch die Schuld nicht von uns. Sagen wir es doch ruhig, er ist tot und damit basta. Um ihn schere ich mich gar nicht, aber die schöne Ladung hätt‘ ich gern gerettet! So schnell kann’s gehen im Leben. Unser Reichtum für die See, pah!“, spottet der Dritte. Dann fangen sie an, sich gegenseitig zu beschimpfen.

Dem Alten ist das nicht ganz geheuer. Er stapft wieder Richtung Ausgang, als ein leises Räuspern aus der hintersten Ecke ertönt.

Ein Greis beugt sich aus dem Halbdunkeln hervor. Er hat ein fleckiges Gesicht, dazu kaum noch Zähne im Mund. Der Schemel, auf dem er sitzt, wirkt viel zu klein für seine wuchtige Statur. Er muss einst ein starker Bursche gewesen sein.

 „Ihr spürt ihn noch, habe ich Recht? Der gestrige Sturm. Er hat seine Spuren hinterlassen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Er tobte und tobte und trieb die Schiffe an die Felsen, wie als ob er von einer höheren Macht geleitet würde. Nichts konnte ihn aufhalten. Ja, wer dann noch so töricht ist und sich auf so ein Abenteuer einlässt, der darf sich nicht wundern, wenn die See einen aufreibt. Sie nimmt keine Rücksicht, nein. Nicht vor den Menschen.“ Er räuspert sich. 

„Ich habe es euch gesagt, tausend Mal habe ich es euch gesagt, dass ihr ihrem Ruf nicht folgen sollt. Sie wird ein Stück von euch einbehalten, oh ja, so wie sie stets mir ein Stück meines Lebens entriss, bis am Ende nur das blieb, was ich heute bin. Ein einsamer, alter Seemann. Doch ihr Taugenichtse wolltet ja nicht auf mich hören. Ihr habt die Segel gespannt und versucht der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Pah, das habt ihr nun davon. “ Seine Stimme ändert sich, wird dunkler und merklich lauter.

„Nur um schmutzige Geschäfte zu machen. Zum Teufel! Und das Meer wusste es. Jetzt seht ihr, was es mit ehrlosem Gesindel wie euch macht. Doch wartet, ich erinnere mich. Nicht jeder von euch war verdorben. Was ist mit eurem Steuermann passiert? Wusste er von eurer gestohlenen Ladung? Wo ist er hin? Er war ein guter Mann, der einzig aufrichtige unter euch. Für ihn war ein anderes Schicksal bestimmt.“

Ein Seufzer entgleitet ihm. „Keiner weiß nun, wo er steckt. Schiff und Ladung wurden zerschmettert. Aber ihr habt überlebt. Doch nein, nicht alle kamen zurück. Das Meer hat einen von euch beibehalten. Als Pfand, damit ihr ja nie wieder so eine Dummheit begeht. Ist es nicht so? IST ES NICHT SO?“

Die Matrosen verstummen. Im Lokal wird es totenstill.

Der Alte Mann steht wie angewurzelt da und denkt nach.  

Was sagt er da? Ich glaube, ich kenne diesen Steuermann, von dem er spricht. Oft habe ich ihn am Hafen gesehen. Wie er da stand, mit erhobenem Haupt und klarem Blick. Seine Augen blau wie das Meer. Vor jeder Fahrt hat er Frau und Sohn verabschiedet, bevor er…Oh nein. Diese Augen. Ich wusste doch, ich habe sie schon einmal gesehen!

Eins und Eins fügt sich zusammen. Er muss zurück zum Steg.

III

Der Junge sitzt noch immer dort, den Blick zur See gewandt. Ein rauer Wind ist aufgezogen und spornt den Wellengang an. Der Alte Mann setzt sich neben den Jungen und legt die Hand auf seine Schulter. 

„Ich weiß, wie du dich fühlst.“

Der Junge blickt zu ihm auf.

„Du fühlst dich allein gelassen. Es ist, als ob etwas aus deinem Leben entschwunden ist, was eigentlich immer zu dir gehört hat. Und du denkst: Schuld ist das Meer. Denn es hat dir deinen Vater genommen.“

Große blaue Augen schauen ihn an. Eine kleine Träne rollt über die Wange. Er spricht weiter.

„Weißt du, die See ist kein böses Wesen. Du musst nur begreifen, wer sie wirklich ist. Niemand hat sie je vermocht zu bändigen. Viele Jahre schon probieren es die Menschen, nur um festzustellen, dass wir nur durch ihre Gunst existieren können. Früher, vor vielen hundert Jahren, als unsere Vorfahren mit Flößen vom großen Kontinent übersetzten, besaßen sie nichts, außer Hoffnung und den Drang, weiter zu segeln, eine neue Heimat zu finden. Das Meer hätte sie allesamt gegen die Felsen treiben können. Doch sie tat es nicht. Sie hatte andere Pläne mit uns und ließ uns gewähren. So konnten wir auf diesen Inseln Fuß fassen und ein neues Leben aufbauen. 

Ich glaube sie ist rechtschaffen, in all ihren Zügen. Und zu uns Menschen hat sie manchmal eine ganz besondere Verbindung.“ 

Der Junge scheint nicht ganz zu begreifen. Auf einmal spürt es der Alte Mann  und seine Augen beginnen zu funkeln. 

„Höre nur hin, wie sie zu uns spricht.“ 

Der Wind pfeift die Küste entlang. In ihren Ohren erklingt das Rauschen der Wellen. 

„Wir waren einst Freunde, weißt du? Die See und ich. Als kleines Kind schon habe ich sie bewundert. Sie war immer etwas Außergewöhnliches. Ich spielte oft mit ihr, ließ Steine über das Wasser flitzen. Die ersten Male gingen sie einfach unter. Doch irgendwann sprangen sie weiter und weiter. Da bemerkte ich, dass sie mit mir spielte. Ich hatte einen neuen Freund gewonnen. Als ich schließlich ein junger Mann von beachtlicher Größe geworden war, heuerte ich als Matrose an, um ihr näher sein zu können. Wir lebten zusammen, jahraus, jahrein. Sie umgab mich mein ganzes Leben. In Zeiten größter Not, wenn Wind und Wetter mein Schiff zu zerstören drohten, gab sie mir Mut. Ich hörte immer ihre Stimme und wusste, dass mir nichts passieren würde.

Wie jede Freundschaft hatten wir Höhen und Tiefen, Ebbe und Flut. Dann lernte ich eine Frau kennen und verliebte mich. Fortan war ich häufiger an Land. Natürlich bereitete das der See großen Kummer. Vernachlässigung ist nicht schön. Mein Leben war nun Teil eines anderen menschlichen Lebens und ich schaffte es nicht mehr für meine alte Freundin, die See, da zu sein. Was tat ich? Ich traf die vielleicht die schwerste Entscheidung in meinem ganzen Leben. Ich entschied mich allein für die Liebe und damit gegen die See.

Sie rief nach mir, doch ich hörte nicht mehr hin. Mit jedem Tag wurde ihre Stimme schwächer. Bis sie irgendwann ganz verschwunden war. Die Stimme des Meeres erstarb.
Plötzlich wusste ich, was mich ein Leben lang begleitet, mich ein Leben lang geleitet hatte. Es war weg. In meinem Herzen blieb ein großes Loch zurück. Nichts konnte es je wieder füllen.

Es ist wie in jeder guten Freundschaft. Wenn du aufhörst dem anderen zuzuhören, dann verlierst du ihn. Meine magische Verbindung zum Meer erlosch. Und mit ihr die Erinnerung an all die schöne Zeit.“

IV

Beide sitzen sie da, blicken nun auf das Meer hinaus. Der Junge wischt sich die Tränen vom Gesicht. Auch der Alte Mann ist tief gerührt.

„Du fragst dich sicherlich, warum ich dir das alles erzähle?“

Der Junge nickt vorsichtig mit dem Kopf.

„Nun, ich habe deinen Vater gekannt. Er war ein klügerer Mensch als ich und ist nie an der Entscheidung zwischen der Freundschaft und der Liebe zerbrochen. Er fand die Frau seiner Träume und behielt die Freundschaft zur See. Wie glücklich er gewesen sein muss.“

Wieder kullern kleine Tränen über das Gesicht.

„Lass dir eins sagen, mein Junge: Habe keine Angst. Wenn ich etwas in meinen Jahren auf See gelernt habe, dann, dass sie zu all denen gerecht ist, die gerecht zu ihr sind. Und Freunde sind ihr besonders wichtig. Sie wacht über sie, damit deren Glück nichts im Wege steht. Wenn du an den Horizont schaust…“, sein Finger wandert auf der Linie zwischen den Welten entlang, „…dann wirst du verstehen, dass du dir keine Sorgen machen brauchst. Der Mensch und das Meer schätzen einander. Es ist ein Geben und Nehmen im Einverständnis der Gezeiten. Manchmal schien auch für mich alles trüb und aussichtslos zu sein. Doch dann erinnerte mich an meine Freundin da draußen. Eine solche Freundschaft gibt dir etwas, das wertvoller ist, als alle Schätze auf dieser Welt. Sie gibt dir Hoffnung.“ 

Etwas taucht am Horizont auf. Ein kleiner Punkt. Der Schleier der Unkenntnis liegt über der Form. Schnell wächst und wächst sie, wird größer, gewinnt an Raum. Sie zieht sich in die Breite und reckt den Hals in die Höhe. Mast und Rumpf erscheinen. Ein Schiff! Bald sind menschliche Silhouetten auszumachen. Auf der Reling steht ein Mann, ragt über die anderen hinaus. Er winkt wie wild geworden mit beiden Händen, als ob er dadurch selbst das Schiff  beschleunigen könnte.

Der Junge springt auf. Er erkennt das Profil des Mannes, hat es schon tausend Mal in seinem Leben gesehen.

„Papa...“, flüstert er.

Der Alte atmet tief ein.

Ich spüre es. Das war es also, was ich die ganzen Jahre vermisst habe. Nun weiß ich wieder, was es heißt, einen Freund für’s Leben zu haben. Ich danke dir, liebe See! Ich danke dir, dass du nach so vielen Jahren der Stille immer noch bei mir bist. 

Der Junge beginnt zu winken, zu springen und zu schreien. Sein Kummer verschwindet wie ein Stein im Meer. Noch eine gefühlte Ewigkeit dauert es, bis das Schiff endlich nah genug ist. Dann hechtet der Vater von der Reling und schwimmt seinem Sohn entgegen. Dieser ist außer sich vor Freude und dreht sich zum Alten Mann um.

Doch da ist kein Alter Mann mehr. Er ist bereits gegangen. Nur noch die Abdrücke seines Gehstocks sind schwach im Sand auszumachen. Wellen rauschen gegen den Steg und ein Windhauch streicht über die Insel. In seinen Ohren erklingt die Stimme des Meeres.

Montag, 2. September 2013

The HardCore - Abschiedsbrief


Nach langer Zeit, ist es wieder einmal an der Zeit, dass ich mich mit meinem guten alten Freund Karl treffe. Doch heute, ist etwas anders. Kalle ist still und melancholisch. Es scheint sogar die gesamte Bar mit runter zu ziehen.
„Was ist denn heute mit dir los?“ Frage ich nach zwei Bier und Kalles zweiter Zigarre. „Hast du schon wieder 'nen Job verloren?“
„Sehr witzig!“ sagt Karl „Nein, es ist eine komplizierte lange Geschichte.“
„Schieß los!“ sage ich „Ich hab Zeit.“
Kalle nimmt noch einen Schluck aus seinem Glas, als wäre es der letzte für eine lange Zeit.
„Also,“ setzt Kalle an, als wolle er noch einmal deutlich machen, dass die Geschichte wirklich lang wird und mir die Möglichkeit geben, dass ich mich doch anders entscheide. Er schaut mich an und fährt nach einem weiteren Schluck aus seinem Glas fort: „Als ich heute Morgen aufgestanden bin, und dann meine Post geholt habe, war da ein Brief dabei. Es war ein Abschiedsbrief eines Freundes. In dem Brief stand, dass dieser mein Freund auf die Erde gekommen ist, um der Menschheit ein besseres Leben zu zeigen. Er sollte ihnen beibringen, sozial und wirtschaftlich zu leben um die Menschheit als Mitglied in den großen Räten des Universums aufnehmen zu können. Er sollte sie darauf vorbereiten, technische Unterstützung zu erhalten und ein Mitspracherecht bei den großen Entscheidungen des Universums. So lange sie aber so gespalten leben und sich gegenseitig bekriegen, sollten sie nichts bekommen. Mein Freund sollte sie alle vereinen und regelmäßig einen Statusbericht an seinen Heimatplaneten geben. Was für Fortschritte die Menschen machen. In den letzten Jahren haben sie enorme technische Fortschritte gemacht. Mein Freund sagt aber, dass sie immernoch so blöd sind wie immer. Teilweise sogar noch blöder, meint er. Mein Freund schrieb weiter, dass nach 1300 Jahren seine Vorgesetzten gesagt haben, er solle wieder zurück kommen, da die Erde wohl hoffnungslos verloren ist. Tendenziell werden sie sich innerhalb der nächsten Jahrzehnte eher selbst zerstört haben als für größeres bereit zu sein. Solche können sie nicht gebrauchen im Weltraumrat, um es mal für dich verständlich aus zudrücken. Mein Freund meinte, dass sie jetzt warten wollen bis sich die Aliens selbst ausgerottet haben, und dann wollen sie sehen was für neue Lebensformen entstehen, und ob diese besser geeignet sind. Ein Eingreifen ist sinnlos. Den Menschen irgendetwas zu geben ist zu gefährlich, meint er, sie würden damit versuchen den Rest des Universums auszulöschen.“ Kalle hört auf zu erzählen und nippt an seinem Bier. „Tja,“ sagt er dann „Das ist die Geschichte.“
„Und was ist jetzt mit dir?“ Frage ich nach einer längeren Pause und merke zugleich, dass diese Frage unglaublich dämlich war.
„Ach,“ sagt Kalle „ich überlege, ob es für mich nicht vielleicht auch langsam an der Zeit ist, wieder nach hause zurück zu kehren.“
Er steht auf und geht zum Billardtisch. Ich bleibe sitzen und bestelle mir ein Bier, einen Whiskey, und nach kurzem zögern noch drei Jägermeister.


Victor Ian Clockwork
02.09.13