Von Mr.Big
3 Stunden zuvor
Auf
dem Revier hat Inspektor Jim Kramer von alldem nichts mitbekommen. Er sitzt in
seinem Stuhl, die Füße auf dem Tisch und die aufgeschlagene Akten auf dem Schoß.
Alles wuselt in der Abteilung vor sich hin, im üblichen Trott, ohne
nennenswerte Auffälligkeiten. Irgendwo klingelt ein Telefon. Er überlegt kurz
den Hörer abzunehmen, besinnt sich dann aber wieder auf seine eigentliche
Aufgabe zurück und überlässt den Job einem Kollegen. Wo zum Teufel ist eigentlich
Volitar, fragt er sich. Sie sollte schon längst mit den Beweismitteln
zurücksein. Eine Anordnung vom Obersten Richter. Erneute Kontrolle der
Gegenstände, die der Angeklagte bei sich getragen hat. Na, wenn es denn sein
muss.
Jim
beginnt zu lesen.
Der
Angeklagte ist als notorischer Falschspieler bekannt …blablabla…Anklageschrift:
Totschlag…blablabla….wird vorgeworfen, wahrscheinlich im Affekt gehandelt zu
haben…blablabla…Opfer ist Kasinobesitzer Herr….blablabla (wie uninteressant)…Angeklagter
beschreibt sich selbst als unschuldig…blablabla…höhere Macht steuerte ihn...…warte,
was zum Teufel?
Jim
stutzt. Was er da liest ergibt keinen Sinn.
Der
Angeklagte gab zum Protokoll, dass er unschuldig sei, weil er von einer höheren
Macht zu der Tat gedrängt wurde. Er sagte, vor der vermeintlichen Tat mehrfach
am gleichen Seven Eleven – Tisch große Summen gewonnen zu haben. Nach Zeugenaussagen kam der Kasinobesitzer
höchstpersönlich zu ihm und stellte ihn zu Rede, wahrscheinlich, weil er
misstrauisch geworden war. Beweismittel W1 und W2 haben ihn daraufhin, nach seinen
Worten, „gezwungen, diesen Dreckskerl zu erledigen“.
„Das
nächste Mal bist du mit Suchen dran“. Clair Volitar erscheint und schaut ziemlich
verärgert drein. Sie knallt einen Umschlag auf den Tisch.
Jim
blickt zu ihr auf.
„Das
wurde ja auch Zeit. Warum hat das denn so lange gedauert?“, fragt er spitz.
„Hatte
ein Kollege wohl versehentlich ausgeliehen. Lag in der falschen Abteilung.“
Er
greift sich den Umschlag und öffnet ihn. Die Versiegelung ist bereits
durchbrochen.
„Warum
sollen wir nochmal erneut die Sachen von dem Typen durchwühlen?“, fragt Claire.
„Weil
der Richter sich nochmal die Beweismittel angucken will, die den Typen
„gezwungen“ haben sollen. Was für ein Schwachsinn.“
Er
kippt den Inhalt aus. Auf dem Tisch verteilen sich Pokerchips, ein Paar Asse
und zwei Joker. Widerwillig fällt ein weiteres Objekt aus der Öffnung. Blitze
zucken auf. Das Ding springt mit unglaublichem Vergnügen auf der Tischplatte
herum, bevor es zum Erliegen kommt.
„Sag
mal Claire, weißt du wie die Regeln für Seven-Eleven sind?“
„Klar,
ist ein Spiel mit zwei Würfeln. Du brauchst die Summe Sieben oder Elf um zu
gewinnen. Ganz einfach.“
Er
schaut auf den Würfel vor ihm. Wow, der sieht echt edel aus, denkt sich Jim.
Eine smaragdgrüne Fläche, durchbrochen von fünf weißen Punkten. An der Seite
des Umschlags ist eine Checkliste aufgeklebt.
Jim
ist irritiert.
„Warte
mal, wo ist der zweite Würfel?“
Jetzt
Es
ist erstaunlich kalt an diesem Abend. Der Herbst hat bereits angefangen, seine
Arbeit zu verrichten. Auf den Baumkronen im Park sind kaum noch Blätter zu
erkennen.
Wie
ist er hierhergekommen? Und wie viel Zeit ist zwischen dem Schuss und jetzt
vergangen? Frank weiß es nicht. Es macht auch nichts mehr aus, ihm ist jetzt alles
egal. Er fühlt nur noch Leere in sich. Ein tiefes Loch hat alle Emotionen
aufgesaugt. Zurück bleibt bedrückende Schwärze, die wie ein Teerfilm auf seiner
Seele klebt.
Gefühle
sterben, Gedanken leben weiter.
Eingehüllt
in einer dicken Winterjacke sitzt er auf der Parkbank. Langsam und zäh beginnen
die Gedanken durch seinen Kopf zu fließen.
Wie konnte das nur alles
passieren? Dieser Tag schien wie jeder andere. Doch was da passiert ist, hat
alles verändert. Jetzt sitze ich hier, mir ist bitter kalt. Ich spüre die
Schuld auf meinen Schultern. Sie drückt mich gnadenlos nach unten und
zerquetscht mich.
Mein Freund ist tot. Ich
habe einen Unbekannten erschossen. Und die Frau? Ich weiß nicht mal, ob sie es
geschafft hat…
Das alles ist nur
passiert, weil ich bin, wie ich bin. Nie in meinem Leben habe ich
Entscheidungen fällen können. Ich bin Polizist geworden, weil ich genau wusste,
wie logisch das war. Es ist etwas Gutes, das Gesetz zu hüten. Und sie geben die
einen klaren Katalog an Aufgaben und Pflichten, du hast einen Kodex, nach dem
du dich richten kannst. Keine Entscheidungen, nur Regeln. Doch was nützt dir
dies im Angesicht des Todes?
Er
seufzt. Sein Atem geht langsam und schwer. Die Hände zittern. Ihm ist kalt.
Was habe ich bloß getan?
Wieso bin ich so, wie ich bin? Ich dürfte niemals in diese Situation versetzt
werden, Leben zu retten! Ich bin kein Retter. Ich bin ein Feigling. Ein
Feigling, der sich nicht entscheiden kann. Noch niemals entscheiden konnte. Immer
und immer wieder hat mich dieses verdammte Leben dazu gezwungen, Entscheidungen
zu treffen. Realschule oder Gymnasium. Ausbildung
oder Studieren. Freundin oder Freiheit. Immer wieder musste ich mich
entscheiden und nie habe ich die richtige Entscheidung getroffen.
Das Leben besteht aus so
vielen einzelnen Variablen. Zusammengesetzt ergeben sie das Schicksal jenes
Einzelnen. Doch wie soll man sich entscheiden, wenn man die Variablen nicht
kennt, wenn einem die Gleichung nichts sagt? Wenn darauf nur Buchstaben und
Zahlenreihen zu erkennen sind, die Substanz eines Leben, dass man nicht mehr
versteht? Warum sitze ich hier? Was hat mich an diesen Ort gebracht? Meine
Unfähigkeit, zu rechnen.
Wenn dir jemand im
Mathematikunterricht eine Aufgabe gegeben hatte, hieß es immer: Finde die
Lösung. Das war meistens die Essenz des
Ganzen. Aber es gibt nicht immer nur einen Weg zum Ziel. Mit mehr Aufwand
konnte man manchmal zum selben Ergebnis kommen, von den vorgeschriebenen Pfaden
abweichen und sich ein Stück Freiheit im komplizierten System des Lebens
erkämpfen.
Doch dann legte jemand
fest, dass es auch auf den Lösungsweg Punkte gab. Und von da an brach alles
wieder zusammen. Feste Strukturen, keine Unabhängigkeit. Entscheidungen, die
jeder für das Leben zu treffen hatte. Diesen oder jenen Job? Welche
gottverdammte Versicherung nehme ich denn? Die wollen mich doch alle übers Ohr
hauen! Was passiert, wenn der strikte Lösungsweg nicht mehr weiterhilft? Was
soll man dann tun?
Das Logischste für mich
wäre wohl gewesen, zum Polizeipsychologen zugehen. Geh dahin, rede mit ihm, ja,
ja, dann wird alles wieder gut. Nichts wird wieder gut! Ich will nicht mehr an
dieser vorgefertigten Lösung mitwirken, ich will ausbrechen aus diesem System.
Falsche Variablen, die in Wirklichkeit Konstanten sind. Kann ich mich überhaupt
noch entscheiden? Michael ist tot und wird auch für immer tot bleiben. Und
Schuld bin ich! Egal was passiert, diese Konstante ist gesetzt und wird mich für
immer verfolgen.
Er
fühlt, dass er sich an einem Scheideweg in seinem Leben befindet. Der Verstand,
der ihm einst so vertraut erschien, zeigt nur Gleichgültigkeit ihm gegenüber.
Wie soll es nun
weitergehen?
Wieder eine
Entscheidung, die zu fällen ist.
Oder ist die
Entscheidung eher: Soll es für mich weitergehen?
Das Logischste machen?
Nie wieder, das Logischste hat mich hierher gebracht!
Wie
so oft in seinem Leben, ist ihm alles egal. Was er braucht, ist nicht die
erneute Qual, eine Entscheidung zu treffen, sondern eine Entscheidung und zwar
sofort.
Frank
zittert am ganzen Körper. Wer ist er, dass er über das Leben von drei Menschen
entscheiden musste? Einer war ihm sehr nahe gewesen, die anderen Beiden hat er
nicht einmal gekannt.
Er
fasst an den Halfter. Seine Dienstwaffe sitzt fest und unbeteiligt darin.
Und
über das eigene Leben? War man denn der Herr seiner Selbst? Doch was, wenn von
dem Selbst nichts mehr übrig bleibt und es eigentlich egal ist, stehen zu
bleiben oder weiterzugehen? Weil der Weg
nie enden wird, der schmerzvolle Weg, voll mit Steinen, die einen versuchen zu
Fall bringen und so vielen Abzweigungen, die einen in die Irre führen wollen. Was
macht es also aus, diese wichtigste Entscheidung jemand anderem zu überlassen?
Er könnte genauso das Schicksal befragen, ihm ein Zeichen zu senden.
In der Schule wäre jetzt
Wahrscheinlichkeitsrechnung angesagt. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit,
jemals wieder ein gutes Leben zu führen? Nach diesem Vorfall? Seien wir nicht
so kleinlich. Genauso hoch, wie nie über
das Geschehene hinwegzukommen und ewig als emotionaler Krüppel und Schuldiger
zurückzubleiben. Dann kann ich auch gleich aufhören zu leben.
Gleiche Chance für beide
Welten. Dazwischen gab es eine Vielzahl von Abzweigungen, Variablen. Aber
Scheiß auf die Dinge, die ich eh nie berechnen konnte.
Es
ging also um eine simple Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten.
Leben oder Sterben, hallt es in seinem Kopf.
Er
braucht einen Entscheidungsträger.
Franks
Blick fällt auf seine linke Hand. Der Würfel ruht seelenruhig darin und strahlt
seine magische Aura in das schmerzverzerrte Gesicht. Seine Gedanken beginnen zu
rasen.
Der gerade Weg, der
einfache Weg, wäre, alles zu beenden. Nie wieder Schuld auf mich laden zu
müssen. Nie wieder einen Kollegen im Stich lassen, nur mich selbst. Keine
Verantwortung mehr übernehmen und nie wieder dieses falsche Spiel spielen! Der
gerade Weg. Eine gerade Zahl.
Der ungerade Weg, der
schwere Weg. Das alles irgendwie verarbeiten. Emotionen, wenn sie denn noch in
mir schlummern, herausbrechen, herausschreien, sich neu sortieren,
Betriebssystem neu aufsetzten, Cache leeren, neustarten. Nur eine kleine Datei
in meinem Kopf würde mich für immer daran erinnern, wie mein Leben als
entscheidungsunwilliger Idiot gewesen und was dadurch passiert ist. Der ungerade
Weg.
Gerade
Zahl heißt Sterben. Ungerade heißt Leben.
Der Würfel ist einfach
perfekt. Ich gebe die wichtigste Entscheidung meines Lebens aus der Hand. Warum
auch nicht? War sie denn so wichtig? Wichtiger als andere, z.B. diese
gottverdammte Zeitung abzubestellen? Nein. Am Ende, am Scheideweg des Seins,
zählt alles gleich. Der Würfel ist so gut wieder jeder andere Gegenstand, um
diese Entscheidung zu fällen.
Eins, Drei und Fünf
heißt: Neustart
Zwei, Vier und Sechs
heißt: Stecker ziehen. Der Tod.
Er
kichert. Richtig poetisch ist er in seinen vielleicht letzten Gedanken
geworden.
Nun
ist es aber Zeit, sie endlich zu treffen. Die letzte Entscheidung seines alten
und die vielleicht erste Entscheidung seines neuen Lebens.
Er
lässt den smaragdgrünen Würfel langsam aus seiner Hand rollen. All die
Verantwortung liegt nun auf ihm. Wie ein Edelstein blitzt er auf, als er seinen
Weg zum Boden antritt.
Leben oder Sterben.
Er
schlägt auf dem Kopfsteinpflaster auf.
Leben oder Sterben.
Wie
wild springt er umher.
Leben oder Sterben.
Er
kommt zur Ruhe. Seine Oberfläche glitzert im schwachen Licht der Laternen. Weiße Punkte strahlen ihn an und durchdringen
die unergründliche Schwärze, den Teerfilm seiner Seele. Die Entscheidung ist
gefallen.
Ein
Seufzer entfährt ihm.
Nun
ist ihm nicht mehr kalt. Für einen Moment kehrt die Klarheit in seinen Geist
zurück, die ihm sagt, dass er nie wieder schwere Entscheidungen treffen muss.
Denn die Wichtigste wurde ihm soeben abgenommen. Von nun an ist alles simpel.
Seine
Hände umklammern fest die Pistole.