MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Montag, 25. November 2013

Wenn der Würfel fällt - Teil III




Von Mr.Big



3 Stunden zuvor

Auf dem Revier hat Inspektor Jim Kramer von alldem nichts mitbekommen. Er sitzt in seinem Stuhl, die Füße auf dem Tisch und die aufgeschlagene Akten auf dem Schoß. Alles wuselt in der Abteilung vor sich hin, im üblichen Trott, ohne nennenswerte Auffälligkeiten. Irgendwo klingelt ein Telefon. Er überlegt kurz den Hörer abzunehmen, besinnt sich dann aber wieder auf seine eigentliche Aufgabe zurück und überlässt den Job einem Kollegen. Wo zum Teufel ist eigentlich Volitar, fragt er sich. Sie sollte schon längst mit den Beweismitteln zurücksein. Eine Anordnung vom Obersten Richter. Erneute Kontrolle der Gegenstände, die der Angeklagte bei sich getragen hat. Na, wenn es denn sein muss.

Jim beginnt zu lesen. 

Der Angeklagte ist als notorischer Falschspieler bekannt …blablabla…Anklageschrift: Totschlag…blablabla….wird vorgeworfen, wahrscheinlich im Affekt gehandelt zu haben…blablabla…Opfer ist Kasinobesitzer Herr….blablabla (wie uninteressant)…Angeklagter beschreibt sich selbst als unschuldig…blablabla…höhere Macht steuerte ihn...…warte, was zum Teufel?

Jim stutzt. Was er da liest ergibt keinen Sinn.

Der Angeklagte gab zum Protokoll, dass er unschuldig sei, weil er von einer höheren Macht zu der Tat gedrängt wurde. Er sagte, vor der vermeintlichen Tat mehrfach am gleichen Seven Eleven – Tisch große Summen gewonnen zu haben.  Nach Zeugenaussagen kam der Kasinobesitzer höchstpersönlich zu ihm und stellte ihn zu Rede, wahrscheinlich, weil er misstrauisch geworden war. Beweismittel W1 und W2 haben ihn daraufhin, nach seinen Worten, „gezwungen, diesen Dreckskerl zu erledigen“. 

„Das nächste Mal bist du mit Suchen dran“. Clair Volitar erscheint und schaut ziemlich verärgert drein. Sie knallt einen Umschlag auf den Tisch.

Jim blickt zu ihr auf.

„Das wurde ja auch Zeit. Warum hat das denn so lange gedauert?“, fragt er spitz.

„Hatte ein Kollege wohl versehentlich ausgeliehen. Lag in der falschen Abteilung.“

Er greift sich den Umschlag und öffnet ihn. Die Versiegelung ist bereits durchbrochen. 

„Warum sollen wir nochmal erneut die Sachen von dem Typen durchwühlen?“, fragt Claire.

„Weil der Richter sich nochmal die Beweismittel angucken will, die den Typen „gezwungen“ haben sollen. Was für ein Schwachsinn.“ 

Er kippt den Inhalt aus. Auf dem Tisch verteilen sich Pokerchips, ein Paar Asse und zwei Joker. Widerwillig fällt ein weiteres Objekt aus der Öffnung. Blitze zucken auf. Das Ding springt mit unglaublichem Vergnügen auf der Tischplatte herum, bevor es zum Erliegen kommt. 

„Sag mal Claire, weißt du wie die Regeln für Seven-Eleven sind?“

„Klar, ist ein Spiel mit zwei Würfeln. Du brauchst die Summe Sieben oder Elf um zu gewinnen. Ganz einfach.“

Er schaut auf den Würfel vor ihm. Wow, der sieht echt edel aus, denkt sich Jim. Eine smaragdgrüne Fläche, durchbrochen von fünf weißen Punkten. An der Seite des Umschlags ist eine Checkliste aufgeklebt. 

Jim ist irritiert.

„Warte mal, wo ist der zweite Würfel?“  


Jetzt 

Es ist erstaunlich kalt an diesem Abend. Der Herbst hat bereits angefangen, seine Arbeit zu verrichten. Auf den Baumkronen im Park sind kaum noch Blätter zu erkennen.

Wie ist er hierhergekommen? Und wie viel Zeit ist zwischen dem Schuss und jetzt vergangen? Frank weiß es nicht. Es macht auch nichts mehr aus, ihm ist jetzt alles egal. Er fühlt nur noch Leere in sich. Ein tiefes Loch hat alle Emotionen aufgesaugt. Zurück bleibt bedrückende Schwärze, die wie ein Teerfilm auf seiner Seele klebt.

Gefühle sterben, Gedanken leben weiter.

Eingehüllt in einer dicken Winterjacke sitzt er auf der Parkbank. Langsam und zäh beginnen die Gedanken durch seinen Kopf zu fließen.

Wie konnte das nur alles passieren? Dieser Tag schien wie jeder andere. Doch was da passiert ist, hat alles verändert. Jetzt sitze ich hier, mir ist bitter kalt. Ich spüre die Schuld auf meinen Schultern. Sie drückt mich gnadenlos nach unten und zerquetscht mich.
Mein Freund ist tot. Ich habe einen Unbekannten erschossen. Und die Frau? Ich weiß nicht mal, ob sie es geschafft hat…

Das alles ist nur passiert, weil ich bin, wie ich bin. Nie in meinem Leben habe ich Entscheidungen fällen können. Ich bin Polizist geworden, weil ich genau wusste, wie logisch das war. Es ist etwas Gutes, das Gesetz zu hüten. Und sie geben die einen klaren Katalog an Aufgaben und Pflichten, du hast einen Kodex, nach dem du dich richten kannst. Keine Entscheidungen, nur Regeln. Doch was nützt dir dies im Angesicht des Todes? 

Er seufzt. Sein Atem geht langsam und schwer. Die Hände zittern. Ihm ist kalt.

Was habe ich bloß getan? Wieso bin ich so, wie ich bin? Ich dürfte niemals in diese Situation versetzt werden, Leben zu retten! Ich bin kein Retter. Ich bin ein Feigling. Ein Feigling, der sich nicht entscheiden kann. Noch niemals entscheiden konnte. Immer und immer wieder hat mich dieses verdammte Leben dazu gezwungen, Entscheidungen zu treffen. Realschule oder Gymnasium.  Ausbildung oder Studieren. Freundin oder Freiheit. Immer wieder musste ich mich entscheiden und nie habe ich die richtige Entscheidung getroffen.

Das Leben besteht aus so vielen einzelnen Variablen. Zusammengesetzt ergeben sie das Schicksal jenes Einzelnen. Doch wie soll man sich entscheiden, wenn man die Variablen nicht kennt, wenn einem die Gleichung nichts sagt? Wenn darauf nur Buchstaben und Zahlenreihen zu erkennen sind, die Substanz eines Leben, dass man nicht mehr versteht? Warum sitze ich hier? Was hat mich an diesen Ort gebracht? Meine Unfähigkeit, zu rechnen.

Wenn dir jemand im Mathematikunterricht eine Aufgabe gegeben hatte, hieß es immer: Finde die Lösung.  Das war meistens die Essenz des Ganzen. Aber es gibt nicht immer nur einen Weg zum Ziel. Mit mehr Aufwand konnte man manchmal zum selben Ergebnis kommen, von den vorgeschriebenen Pfaden abweichen und sich ein Stück Freiheit im komplizierten System des Lebens erkämpfen.

Doch dann legte jemand fest, dass es auch auf den Lösungsweg Punkte gab. Und von da an brach alles wieder zusammen. Feste Strukturen, keine Unabhängigkeit. Entscheidungen, die jeder für das Leben zu treffen hatte. Diesen oder jenen Job? Welche gottverdammte Versicherung nehme ich denn? Die wollen mich doch alle übers Ohr hauen! Was passiert, wenn der strikte Lösungsweg nicht mehr weiterhilft? Was soll man dann tun?

Das Logischste für mich wäre wohl gewesen, zum Polizeipsychologen zugehen. Geh dahin, rede mit ihm, ja, ja, dann wird alles wieder gut. Nichts wird wieder gut! Ich will nicht mehr an dieser vorgefertigten Lösung mitwirken, ich will ausbrechen aus diesem System. Falsche Variablen, die in Wirklichkeit Konstanten sind. Kann ich mich überhaupt noch entscheiden? Michael ist tot und wird auch für immer tot bleiben. Und Schuld bin ich! Egal was passiert, diese Konstante ist gesetzt und wird mich für immer verfolgen.

Er fühlt, dass er sich an einem Scheideweg in seinem Leben befindet. Der Verstand, der ihm einst so vertraut erschien, zeigt nur Gleichgültigkeit ihm gegenüber. 

Wie soll es nun weitergehen?

Wieder eine Entscheidung, die zu fällen ist.

Oder ist die Entscheidung eher: Soll es für mich weitergehen?

Das Logischste machen? Nie wieder, das Logischste hat mich hierher gebracht!

Wie so oft in seinem Leben, ist ihm alles egal. Was er braucht, ist nicht die erneute Qual, eine Entscheidung zu treffen, sondern eine Entscheidung und zwar sofort.

Frank zittert am ganzen Körper. Wer ist er, dass er über das Leben von drei Menschen entscheiden musste? Einer war ihm sehr nahe gewesen, die anderen Beiden hat er nicht einmal gekannt.

Er fasst an den Halfter. Seine Dienstwaffe sitzt fest und unbeteiligt darin.

Und über das eigene Leben? War man denn der Herr seiner Selbst? Doch was, wenn von dem Selbst nichts mehr übrig bleibt und es eigentlich egal ist, stehen zu bleiben oder weiterzugehen?  Weil der Weg nie enden wird, der schmerzvolle Weg, voll mit Steinen, die einen versuchen zu Fall bringen und so vielen Abzweigungen, die einen in die Irre führen wollen. Was macht es also aus, diese wichtigste Entscheidung jemand anderem zu überlassen? Er könnte genauso das Schicksal befragen, ihm ein Zeichen zu senden. 

In der Schule wäre jetzt Wahrscheinlichkeitsrechnung angesagt. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, jemals wieder ein gutes Leben zu führen? Nach diesem Vorfall? Seien wir nicht so kleinlich. Genauso hoch,  wie nie über das Geschehene hinwegzukommen und ewig als emotionaler Krüppel und Schuldiger zurückzubleiben. Dann kann ich auch gleich aufhören zu leben.

Gleiche Chance für beide Welten. Dazwischen gab es eine Vielzahl von Abzweigungen, Variablen. Aber Scheiß auf die Dinge, die ich eh nie berechnen konnte.

Es ging also um eine simple Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten. 

Leben oder Sterben, hallt es in seinem Kopf.

Er braucht einen Entscheidungsträger. 
 
Franks Blick fällt auf seine linke Hand. Der Würfel ruht seelenruhig darin und strahlt seine magische Aura in das schmerzverzerrte Gesicht. Seine Gedanken beginnen zu rasen.

Der gerade Weg, der einfache Weg, wäre, alles zu beenden. Nie wieder Schuld auf mich laden zu müssen. Nie wieder einen Kollegen im Stich lassen, nur mich selbst. Keine Verantwortung mehr übernehmen und nie wieder dieses falsche Spiel spielen! Der gerade Weg. Eine gerade Zahl.

Der ungerade Weg, der schwere Weg. Das alles irgendwie verarbeiten. Emotionen, wenn sie denn noch in mir schlummern, herausbrechen, herausschreien, sich neu sortieren, Betriebssystem neu aufsetzten, Cache leeren, neustarten. Nur eine kleine Datei in meinem Kopf würde mich für immer daran erinnern, wie mein Leben als entscheidungsunwilliger Idiot gewesen und was dadurch passiert ist. Der ungerade Weg. 

Gerade Zahl heißt Sterben. Ungerade heißt Leben.

Der Würfel ist einfach perfekt. Ich gebe die wichtigste Entscheidung meines Lebens aus der Hand. Warum auch nicht? War sie denn so wichtig? Wichtiger als andere, z.B. diese gottverdammte Zeitung abzubestellen? Nein. Am Ende, am Scheideweg des Seins, zählt alles gleich. Der Würfel ist so gut wieder jeder andere Gegenstand, um diese Entscheidung zu fällen.

Eins, Drei und Fünf heißt: Neustart

Zwei, Vier und Sechs heißt: Stecker ziehen. Der Tod.

Er kichert. Richtig poetisch ist er in seinen vielleicht letzten Gedanken geworden.

Nun ist es aber Zeit, sie endlich zu treffen. Die letzte Entscheidung seines alten und die vielleicht erste Entscheidung seines neuen Lebens.

Er lässt den smaragdgrünen Würfel langsam aus seiner Hand rollen. All die Verantwortung liegt nun auf ihm. Wie ein Edelstein blitzt er auf, als er seinen Weg zum Boden antritt.

Leben oder Sterben.

Er schlägt auf dem Kopfsteinpflaster auf.

Leben oder Sterben.

Wie wild springt er umher.

Leben oder Sterben.

Er kommt zur Ruhe. Seine Oberfläche glitzert im schwachen Licht der Laternen.  Weiße Punkte strahlen ihn an und durchdringen die unergründliche Schwärze, den Teerfilm seiner Seele. Die Entscheidung ist gefallen. 

Ein Seufzer entfährt ihm.

Nun ist ihm nicht mehr kalt. Für einen Moment kehrt die Klarheit in seinen Geist zurück, die ihm sagt, dass er nie wieder schwere Entscheidungen treffen muss. Denn die Wichtigste wurde ihm soeben abgenommen. Von nun an ist alles simpel.

Seine Hände umklammern fest die Pistole.


Sonntag, 24. November 2013

Bucktopia: Schattenseiten. Folge 8: Tod und ein neues Leben

 Der Händler runzelte die Stirn und musterte Rodge misstrauisch. Dann fingen seine Augen jedoch an zu glänzen und ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens huschte über sein Gesicht.
„Leopold? Bist du das?“
Harry kam hinter dem Stand hervor, zögerte kurz, und reichte ihm schließlich die Hand. Rodge fiel auf, dass er eine Pistole am Gürtel trug. Wie er die wohl hier hereingeschmuggelt hatte?
„Mein Gott, das muss ja schon Jahre her sein, dass wir uns mal gesehen haben. Sind deine Eltern auch hier?“
Rodge schüttelte den Kopf.
„Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht sollten wir das nicht hier auf der Straße stehend besprechen. Schon gar nicht, wenn man dich mit der da sehen könnte.“
Er wies auf die Pistole.
Harry schüttelte den Kopf.
„Ach, die ist nicht geladen. Ich musste Kugeln und Pulver am Stadttor abgeben, aber wie du meinst. André“, fügte er an den zweiten Händler an seinem Stand gewandt hinzu, „du übernimmst kurz alleine. Ich bin in einer halben Stunde wieder da.“
Dann drehte er sich wieder zu Rodge um.
„Wir beide gehen inzwischen in eine Kneipe, und du erzählst mir, was du hier so ganz alleine treibst. Los komm, ich lade dich ein.“
Er legte Rodge den Arm um die Schulter und schob ihn zum Eingang eines nahegelegenen Gasthauses.
Als Harry für ihn die Tür öffnete, sah Rodge aus den Augenwinkeln eine schwarze Gestalt. Er drehte sich um, doch in diesem Augenblick flog etwas silbern glänzendes knapp an ihm vorbei und bohrte sich in den Hals seines Onkels. Ohne zu überlegen zog Rodge die Pistole aus dem Gürtel seines Onkels und schleuderte sie, während er sich umdrehte, der dunklen Gestalt entgegen. Dieser Gegenangriff kam zu unerwartet, als das sie noch hätte ausweichen können. Der Knauf der Waffe traf sie mit voller Wucht am Kopf, sie fiel rücklings mit dem Hinterkopf aufs Pflaster und blieb reglos liegen.
Rodge wandte sich zu seinem Onkel um. Mit einem Blick erkannte er, dass hier nichts mehr zu machen war. Das Wurfmesser hatte seine Kehle glatt durchschnitten, eine große Blutlache hatte sich um ihn herum ausgebreitet. Das Wurfmesser …
Auf einmal wurde Rodge ganz schlecht. Er drehte sich zu dem schwarz gekleideten Menschen um, den er eben mit seinem Pistolenwurf überwältigt hatte. Der schwarze Umhang, das Wurfmesser, die langen, braunen Haare, die aus der Kapuze hervorlugten …
Rodge gab ein ersticktes Geräusch von sich und rannte los, auf den schwarz verhüllten Körper zu, der da auf dem Boden lag. Um ihn herum war inzwischen eine Panik ausgebrochen. In der erklärten Stadt des Friedens war ein Kampf ausgebrochen. Zwei Menschen waren zu Boden gegangen, einer davon lag in einer riesigen Blutpfütze. Schreiend liefen die Menschen durcheinander und Rodge hatte alle Mühe, sich seinen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen, auch wenn es nur um ein paar Meter ging.
Endlich angekommen kniete er sich nieder und nahm die Kapuze von dem Gesicht des Angreifers … der Angreiferin. Er schluchzte. Da lag Alija, die Augen geschlossen, an der Schläfe deutlich den Abdruck des Pistolenknaufs. Sie rührte sich nicht. Als Rodge ihren Kopf vom Boden heben und auf etwas weiches betten wollte, fasste er in etwas nasses. Erst jetzt realisierte er, dass auch sie blutete. Sie schien mit dem Kopf heftig aufs Pflaster aufgeschlagen zu sein. Er legte eine Hand auf ihre Brust, um die Atembewegung zu erspüren, doch da war nichts, keine Regung. Da ließ Leopold, denn niemand anders war es, der hier trauerte, ihren Kopf wieder sinken und ging gesenkten Kopfes in Richtung Stadttor. Die Wachen waren alle ins Innere der Stadt gerannt, als sie den Tumult gehört hatten. So hatte Leopold keinerlei Schwierigkeiten, als er draußen seine und Alijas restliche Sachen von ihrem Lagerplatz holte und mit allem, was sie besessen hatten, in die Stadt zurückkehrte. Als er wieder auf dem Werkzeugmarkt angekommen war, waren immer noch keine Wachen in der Nähe. Wahrscheinlich hatte man ihnen nur im Vorbeihasten zugeschrien, dass etwas passiert war, ohne das jemand so geistesgegenwärtig gewesen war, ihnen den Ort mitzuteilen, und die Wachen selbst hatten noch nie einen bewaffneten Konflikt in der Stadt schlichten müssen, so dass sie zu unerfahren waren, als dass ihnen die richtige Vorgehensweise eingefallen wäre.
Leopold kehrte zu Alijas totem Körper zurück. Er schob ihr ihr Bündel unter den Kopf.
„Warum musstest du ihn töten? Was sollte das alles?“
Er wisperte ihr die Worte ins Ohr, ohne eine Antwort zu erwarten, doch als er sich gerade wieder erheben wollte, sah er, dass sich ihre linke Hand um ein Stück Papier verkrampft hatte. Mit einiger Mühe gelang es ihm, es aus der Umklammerung zu lösen. Es war die liste der Mörder von Alijas Eltern. Gedankenversunken betrachtete Leopold das Papier, bis sein Blick auf einen Namen fiel. „Harry Klein“ stand da. Das war doch sein Onkel Harry! Dann hatte er also … Leopold begann, zu begreifen. Dann fiel ihm etwas ein. Als sie sich gerade getroffen hatten, hatte Alija ihn nach seinen Eltern gefragt. Fieberhaft suchte er das Papier ab und tatsächlich – auch ihre Namen standen da. Leopold vergrub sein Gesicht in den Händen. Auch sie, seine geliebten Eltern, waren dabei gewesen, als zwei Menschen, Eltern eines kleinen Kindes zudem, ermordet und zusammen mit ihrem Haus in Brand gesteckt worden waren. Mit Tränen in den Augen blickte er wieder in Alijas starres Gesicht.
„Es tut mir so Leid. Erst werden deine Eltern umgebracht, und dann … dann nimmt der Sohn ihrer Mörder dir das Leben. Ich wusste doch nicht … dir hätte ich doch niemals … “
Leopold verstummte. Ein nahezu stummes Schluchzen schüttelten ihn. Dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und fasste einen Plan. Mit schnellen Handgriffen nahm er Alijas Waffen und ihren schwarzen Umhang an sich. Dann nahm er die Liste nochmals in Augenschein. Neben einigen Namen waren Notizen gemacht worden. Es handelte sich um Informationen über den jeweiligen Aufenthaltsort, die Alija schon gesammelt hatte. Die bereits durchgestrichenen Namen und den seines Onkels abgezogen enthielt die Liste noch sieben Namen. Sieben Namen würden eine Zeit lang reichen. Leopold stand auf und betrachtete noch einmal den Körper der jungen Frau, die ihm so nahe gewesen war, wie niemand sonst. Einem plötzlichen Impuls folgend zog er seine Sichel hervor und legte sie zu ihr. Wie einen Gruß ließ er ihr seine erste Waffe, über die sie sich mehrfach lustig gemacht hatte. Noch einmal schaute er in ihr Gesicht, um sich dieses Bild möglichst lange zu bewahren. Dann drehte er sich um und verschwand in den Schatten der kleinen Gassen. Auf Umwegen begab er sich zum Stadttor. Er wollte auf keinen Fall einer Wache über den weg laufen, die ihn vielleicht wegen seiner Waffen festnehmen würde.

Mit jedem Schritt, den er aufs Stadttor zuging, verbarg sich Leopold mehr. Rodges harte Schale schloss sich um ihn, denn was er nun vorhatte, konnte Leopold nicht durchführen. Als er schließlich die Stadt verließ, war es Rodge, der das Tor durchquerte. Er sah noch einmal auf die Liste und prägte sich den ersten Namen darauf gut ein. Das war von nun an sein Leben, das war seine Aufgabe. Er würde Alijas Rache vollenden. Was danach kam, wusste er nicht, aber das war für den Moment auch nicht wichtig. Mit langen Schritten entschwand Rodge in die Nacht hinein.

Mittwoch, 20. November 2013

Wenn der Würfel fällt - Teil II



Von Mr.Big



6 Stunden zuvor

Die Donutschachtel liegt seelenruhig auf dem Armaturenbrett. Doch etwas stimmt nicht. Sie wirkt so seelenlos und leer. Von dem einst so mächtigen Rührgut ist nichts mehr übrig geblieben. Derweil leckt sich Michael genüsslich die Finger ab. Als Detektiv würde Frank sagen: Die Donuts hatten nie eine Chance gehabt. In einem Streifenwagen ist die Überlebensquote für diese Genussmittel immer sehr gering. 

Den ganzen Nachmittag fahren sie nun schon Straßen auf und ab, immer und immer wieder. Damit nicht der letzte Rest an Spaß flöten geht, starrt Frank ab und zu Passanten auf eindringliche Weise an. So will er die Präsenz des Gesetzes vermitteln und ihnen vielleicht einen kleinen Schauer über den Rücken jagen. Ansonsten machen er und sein Partner aber nichts großartigeres, als Gummi auf der Piste zu lassen. Wie öde. Er wünscht sich seine Zeitung mit den vier Buchstaben zurück. Auch wenn das beim Fahren irgendwie doof wäre. 

Blechernes Krächzen ertönt aus den Lautsprechern. Eine Stimme meldet sich über Funk.

„Wagen 323, bitte melden. Wagen 323.“ 

„Houston, wir hören sie laut und deutlich“, gibt Michael zurück.

„Ich habe mehrere besorgte Anrufe von Anwohnern in der Darsonstraße erhalten, die wildes Geschrei melden. Ihr seid gerade ziemlich nahe. Könnt ihr da mal nachsehen gehen?“

„Ist das ein Notruf?“ fragt Frank, nur um sich zu vergewissern.

 „Nein. Bis jetzt nicht. Kontrolliert das trotzdem mal. Wenn ihr Verstärkung braucht, meldet euch.“

„Okidoki, Chef“, erwidert Michael.

Frank nimmt ein paar Abbiegungen und fährt dann auf den zweispurigen Stadtring, der schnellste Weg zu Darsonstraße. Schon die Anwesenheit des blauweißen Polizeiautos reicht aus, um den Verkehr spürbar zu drosseln. Ist es nicht witzig, wie sie alle plötzlich vorgaukeln, vorbildliche Fahrer zu sein? Selbst der Audi, der just im Rückspiegel aufgeploppt ist, scheint es nun nicht mehr so sehr eilig zu haben und bleibt brav mit vorgegebener Geschwindigkeit hinter ihnen. Alles tuckert vor sich hin. Links von ihnen fährt eine Straßenbahn vorbei.

Michael wird ungeduldig.

„Schalt schon die Sirene an, Frank. Zeig‘ denen mal,  wie viele Pferde hier unter der Haube stecken! Kann ja nicht sein, dass diese Straßenbahn noch vor uns am Ziel ist!“
 „Aber es ist kein Notruf.“ „ Jetzt drück schon aufs Gas.“

Michael betätigt den Schalter. Sofort schallt die Fanfare über die ganze Bahn. Auf der linken Spur löst sich der Verkehr binnen Sekunden auf und hinterlässt eine wunderschöne Rennstrecke. Frank gibt ordentlich Gummi. Wie schnell man doch sein kann, wenn alle anderen Autos einfach mal rechts bleiben.

 „Die Kavallerie reitet ein, yeehaw Baby!“ 

Frank stellt sich einen Moment lang vor, wie Michael wohl als Ranger im Wilden Westen ausgesehen hätte. 

In seinen Gedanken manifestiert sich das Bild der weiten Prärie. Die Sonne steht dich am Horizont und scheint auf goldgelbe Farne, die sich seicht im Wind bewegen. Aus den Schatten der Berge kommt Michael, der Gesetzeshüter, angeritten. Stolz und mächtig sitzt er da, in weißem Hemd und Lederweste, auf Jolly Jumper, seinem treuen Pferd, und reitet dem Abenteuer entgegen, während er vor Ausgelassenheit mit seinem Colt wild in die Luft ballert und das Lasso schwingt und… 

 „Frank? Pass auf!“

Ein VW Käfer war ausgeschert und auf ihre Fahrbahn geraten. Instinktiv tritt Frank auf die Bremse. Ein lautes Quietschen ertönt. Der Wagen zieht sich spürbar zusammen. Beide Autos kommen sich bedenklich nahe. Zu nahe. 

Nur wenige Zentimeter voneinander entfernt halten sie inne. So scheint es zumindest. Beide Fahrzeuge düsen immer noch mit gut achtzig Sachen geradeaus. Der Käfer-Fahrer bemerkt die Sirene im seinem Nacken und rudert rüber. Frank und Michael rauschen weiter. Tiefes Durchatmen in der Fahrerkabine. 

„Was für ein Idiot. Das war vielleicht knapp. Ich glaub wir sind gleich da, Frank.“ 

Das Auto beschreibt eine sanfte Kurve, als es in die Darsonstraße einfährt. Da ist auch schon die Nummer des Blocks, von dem der Notruf kam. Frank parkt am Straßenrand und will gerade aussteigen, als ihm ein kleiner Gegenstand aus dem Schoß fällt. Das winzige Etwas plumpst auf den Asphalt und glitzert ihn in seinem verschmitzten Grünton an. 

„Siehe einer an, mein Glücksbringer. Willst du etwas ausbüxen? Dich möchte ich nicht so einfach verlieren. Husch, husch, darin zurück, wo du hingehörst.“ 

Der Würfel gleitet zurück in seine Hosentasche.

In der Straße scheint alles ruhig zu sein.

„Na, wo ist denn das Geschrei? Also ich höre nix, naja, außer dem Atem der Großstadt“, sagt Frank.

„Wie poetisch heute.“ 

„Ich tue mein Bestes.“

Sie gehen den Fußweg entlang. 

„Zentrale, hier Wagen 323. Sind am Einsatzort angelangt. Haben nix auffälliges be…“

Plötzlich ein Schrei. Er kommt aus dem Gebäude zu ihrer Rechten. Binnen Sekunden verändert sich die gesamte Situation. Michael und Frank sind in voller Alarmbereitschaft. Ihre Walter P99 - Pistolen sind auf den Laden vor ihnen gerichtet. Ein Tattoostudio.

In den Schaufenstern sind Bilder zu erkennen, die wohl am besten mit dem Begriff „Körperkunst“ beschreibbar sind. Über der Tür prangert ein Banner mit chinesischen Schriftzeichen

 „Hast du das gehört? Das kam von einer Frau. Wir müssen da rein und ihr helfen!“
Oh mein Gott, wo bin ich da nur reingeraten, denkst sich Frank. „Wir müssen Verstärkung rufen“

„Nein, wir müssen zu ihr. Weiß Gott, was da drin passiert!“

Michael rennt los, während jede Faser von Franks Körper Alarm schlägt.

Du weißt nicht, was dich da drin erwartet, denkt er. Aber andererseits weißt ich genau, worin meine Pflicht besteht. Ich bin da um die Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, dieser Frau zu helfen…und verdammt nochmal, ich muss meinem Kollegen Rückendeckung geben!  Er eilt ihm hinterher.

Michael ist bereits im Inneren verschwunden. Nur ein paar Schritte dahinter überquert Frank die Türschwelle. Er findet sich in einem abgedunkelten Raum wieder. Das Licht fällt nur schwach durch die Fenster. An den dunkelroten Wänden hängen Fotografien von Tätowierungen. 

Frank versucht den Fuß anzuheben, als er einen Widerstand spürt. Etwas klebt an seiner Sohle. Er schaut nach unten. Eine Blutlache tut sich unter seinen Füßen auf. Erschrocken springt er zur Seite. Dabei rempelt er gegen einen Tisch. Mehrere Farbfläschen gehen krachend zu Boden.  

 „Pssst. Sei doch vorsichtig, verdammt nochmal.“, flüstert Michael, der sich, die Pistole im Anschlag, direkt neben ihn hingehockt hat.

„Hörst du irgendetwas?“ 

 „Nein. Doch. Warte.“

Ein leises Wimmern kommt aus dem hinteren Teil des Raumes. Frank zeigt auf die Stelle, in der sich nun ein dunkelroter Fußabdruck abzeichnet.

„Siehst du das auch? Das Blutspur führt in die Abstellkammer da.“

 „Geh und sie nach, ob da jemand ist. Ich sichere die Umgebung ab.“

Langsam schleicht Frank über das Parkett, bedacht darauf, nicht erneut in die Spur hineinzutreten. Beim näheren Betrachten muss hier ein heftiger Kampf stattgefunden haben. Überall sind feine Spritzer verteilt. Vorsichtig umrundet er die Kasse. Dicht vor der Abstellkammer bleibt er stehen. Unbewusst versichert er sich, dass der Würfel noch in seiner Hosentasche ist. 

Dann stößt er die Tür auf und schaut ins Innere. 

Auf dem Boden liegt eine Frau, an die Dreißig Jahre vielleicht. Sie ist blutüberströmt. Ihre Kleider sind verdreht und zerrissen, durchtränkt von schimmerndem Dunkelrot. Ihr ganzer Körper weißt tiefe Schnittwunden auf. Doch sie atmet noch. Wer zum Teufel hat dir das angetan, denkt sich Frank. Neben der Frau liegen kleine, zerrissene Beutel. Weißes, kristallines Pulver glitzert durch den Raum und vermischt sich mit dem Blut zu einem grotesken Brei.

Frank versucht gerade das Gesehene zu verarbeiten, als erneut ein Schrei ertönt. Diesmal von einem Mann. Er fährt herum und eilt in den Raum zurück.

Michael ist nicht mehr allein. Eine Gestalt ist in der anderen Ecke des Raumes aufgetaucht. Aus dem trügerischen Schatten starren ihn zwei pechschwarze Augen an. Sie gehören einem Mann, glattrasierter Schädel und Oberarme wie Betonpfeiler. Regungslos steht er da. Der Großteil seines Körpers bleibt verborgen. 

Für einen Moment lang  herrscht Stille. Alles hält den Atem an. Die Pistolen der Polizisten sind auf den Unbekannten gerichtet.

„Stehenbleiben. Keine Bewegung“, ruft Michael.

Frank probiert ihn zu Verstehen zu geben, was er im Abstellraum vorgefunden hat. Doch es ist überflüssig. Ein Wimmern bahnt sich den Weg durch die Stille. Es kommt von der Frau. In Michaels Gesicht zeichnet sich die Erkenntnis ab.

„Oh mein Gott, wird sie es schaffen?“ Er blickt zu seinem Kollegen. Frank nickt, mehr aufgrund von Hoffnung als von Gewissheit. Michaels Augen fixieren wieder die fremde Person.  Seine Züge sind angespannt. 

„Auf den Boden und Hände auf den Kopf!“

Der Hüne verharrt im Halbdunkeln. Auf seinen Armen verästeln sich Tattoos, die Landkarte eines wilden Lebens. 

Etwas stimmt nicht, denkt Frank. 

Du musst dich  entscheiden, schießt es ihm durch den Kopf.

Er ist verwirrt. Was entscheiden?

Eingreifen oder dastehen. 

Leben oder Sterben.

Seine inneren Alarmglocken läuten. Beide Hände umklammern die Pistole. In seiner Hosentasche brennt sich ein ungewöhnliches Hitze durch den Stoff.

Leben oder Sterben, hallt es in seinen Ohren.

Der Mann springt nach vorne. Mehr noch, er fliegt förmlich nach vorne.  In seiner Hand hält er einen länglichen Gegenstand.  Metall blitzt auf und schneidet durch die Luft. 

Frank will reagieren, muss reagieren. Er versucht mit aller Macht den Abzug zu betätigen. Doch er kann nicht! Seine Zeigefinger sind wie versteinert.

Die Klinge fährt hernieder und verschwindet im Körper des völlig überraschten Polizisten. Ein Schuss ertönt und bohrt sich in die Deckenverkleidung. Michael schaut auf den Griff, der aus seiner Brust ragt. Seine Augen zittern wie wild, bevor sie glasig werden und alles Leben aus ihnen schwindet. Er sackt zu Boden.

Frank verweilt in Schockstarre. Der Mann hält noch immer das Messer in der Hand. Von der blutverschmierten Spitze tropfen kleine rote Perlen auf das Parkett. Der Blick des Hünen haftet auf dem zweiten Polizisten. Zum ersten Mal sieht Frank die Zeichen des Wahnsinns. Unnormal geweitete Pupillen starren ihn an. Kein Verstand ist dahinter zu entdecken, nur pure Raserei.  

Er macht einen Schritt nach vorne. Franks Hände umklammern die Pistole, so fest sie können.  

Leben oder Sterben. Leben oder Sterben.

Er macht erneut einen Schritt nach vorne. Franks Zeigefinger zittert am Abzug, er will drücken, aber er kann nicht. Sein Blick gleitet zu dem am Boden liegenden Kollegen, seinen Freund…

…und plötzlich drängt etwas aus seinem tiefsten Inneren nach außen und löst ihn aus dem Klammergriff des Schocks. 

Leben oder Sterben. LEBEN ODER STERBEN. 

Der Hüne springt auf ihn zu. Frank drückt ab. Eine Sekunde lang kann er deutlichen sehen, wie das Projektil den Lauf verlässt, Fahrt aufnimmt, auf den heranstürzenden Irren zufliegt und sich dann in seine Brust bohrt. 

Ein kurzer Knall. Dann ist Stille. 

Nichts von alldem, was Frank sieht, erscheint ihm noch real. Der Mann schaut ungläubig auf das Loch in seiner Brust. Erstaunt betastet er den Krater, aus dem rasend schnell Blut zu fließen beginnt. Das Messer fällt zu Boden. In seinen Augen blitzt kurz Klarheit auf; der vernebelte Geist, der in den letzten Sekunden des Seins sich noch einmal seines Körpers realisiert. Es war nur ein Moment, doch dieser Moment verändert alles. Sein Bewusstsein verschwindet. Er kracht zu Boden. Das Parkett erzittert unter dem Gewicht. 

Frank gelingt es noch, die Nummer des Notarztes zu wählen.

Dann wird alles schwarz. 

In dem Tattoostudio ist wieder das leise Wimmern einer Frau zu hören.