MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Montag, 6. Januar 2014

Du bist Ich



Von Mr. Big


Die Kirchturmuhr schlägt gerade Zwölf und leitet das neues Jahr ein. Alles um mich herum ist in Bewegung, die Menschenmassen im Stadtzentrum jubeln, feiern frenetisch, tanzen, singen, umarmen sich. Und ich stehe mittendrin. Regungslos. Meine Augen sind auf mein Handydisplay gerichtet.

Wieder einmal weiß ich nicht, wie ich anfangen soll. Dabei will ich doch, ich will inständig mit dir kommunizieren. Jederzeit, analog und virtuell. Und was hindert mich? Ist es mein Stolz? Etwas blockiert meinen Verstand und hält ihn unter einem Tuch verborgen; dann drückt dieses Gefühl meinen Kopf unter Wasser, lässt mich kurz wieder auftauchen, um Mut zu atmen und befördert ihn dann wieder in die kalte Nässe. Ein ewiges Waterboarding der Gedanken. Und alles dreht sich um die Frage: Schreibe ich dir oder nicht?

Ich spüre, der Zeitpunkt ist gekommen.

Es ist schon so lange her, dass ich dir geschrieben habe. So lange, dass ich den Grund, warum ich damit aufhörte, nicht mehr kenne. Andauernd werde ich  nach dir gefragt. Was du machst. Wie es dir geht. Und ob wir uns noch regelmäßig sehen. Logisch, dass sie mich fragen, wir waren ja auch mal beste Freunde. Und sind es eigentlich immer noch. Oder? Seelenverwandtschaft ist doch ein Vertrag für die Ewigkeit. Und wenn nicht, dann habe ich zumindest die Kündigung nicht erhalten. Es schmerzt, nicht zu wissen, was bei dir passiert. Noch mehr schmerzt es, nicht erzählen zu können, was mit mir passiert ist. 

Ich würde dir gerne berichten von meinem Lebenswandel, den vielen neuen Blickwinkeln, von neuen Freunden und alten Feinden. Die Geschichten, die sich hinter dem Horizont abspielen, und von einer schönen, neuen Welt handeln. Nur, willst du das alles überhaupt hören?

Wie soll ich es anders herausfinden, als dir zu schreiben? Dann werde ich erkennen, ob du dich noch für mich interessierst oder ob all dein Interesse verflogen ist wie eine Feder im Wind. Und doch gruselt es mich davor, diesen Schritt zu machen. Denn wenn ich dir schreibe, dann gebe ich die Initiative aus der Hand. Ich sende dir einen Freibrief ohne Antwortumschlag. Du kannst ihn lesen, musst aber nicht. Du kannst antworten, musst aber nicht. Du kannst ihn vergessen und mich gleich mit und doch will ich dir schreiben, muss ich dir schreiben, damit du es nicht tust. Denn ich finde, mein Selbstwertgefühl sei dahingestellt, ich bin immer noch wichtig in deinem Leben. Ich habe nur das Gefühl, du hast es mit der Zeit vergessen.

Ich habe mich verändert. Eine Menge ist in letzter Zeit passiert. Unglaublich viele Gedanken schwirren durch meinen Kopf und müssen da raus. Früher warst du mein eifrigster Zuhörer. Du warst das Ventil, das meinen Kreislauf vor dem Platzen bewahrte. Gleichzeitig war ich dein Ratgeber in Lebensfragen. Wir waren eine gute Symbiose. Nicht zweckgebunden, sondern verbunden im Herzen. Haben unsere Herzen aufgehört, füreinander da zu sein? Ich gebe mich damit nicht zufrieden. Hiermit mache ich mich, so wahr mir Gott helfe, an die Wiederbelebung, mit einer Herzdruckmassage der Worte! 

Doch was möchte ich dir mitteilen?

Ich möchte dir sagen, dass sich meine Welt verändert hat. Sie ist nun mit vielen neuen Seelen bevölkert, die sich in die Gleichung meines Lebens einreihen. Ein paar davon sind beständig, andere kurzweilig, manche ploppen nur ab und zu mal auf und verschwinden dann wieder (Diese Leute nenne ich das Facebook –Syndrom).  

All diese Freunde haben ihre Vorzüge und Nachteile, vor allem bereichern sie mich. Jeder bringt einen kleinen Beitrag zum Film meines Lebens. Über das Genre habe ich mich noch nicht geeinigt, momentan schwankt es zwischen Comedy und Thriller. Einerseits Comedy, weil ich gerade wie bedeppert herumstehe, mitten in der größten Party des Jahres und krampfhaft versuche, dir ein paar Zeilen zu schreiben. Und sieh, schon eine Seite ist ins Land gegangen und so wirklich weitergekommen bin ich nicht.

Ich finde aber auch die Idee gut, in einem Thriller zu leben. Alles ist immer so spannungsgeladen. Du denkst, du weißt, wie es weitergeht, und schwupp, schon kommt die unerwartete Wendung und du stehst da, verwirrter denn je. Kommt es nur mir so vor oder steuere ich gerade auf so eine Wendung zu?

Aber zurück zur Botschaft. Ich möchte dich natürlich nicht mit überflüssigem Palaver belegen. Die Grenze  zwischen eigenem Geltungsdrang und dem innigen Bedürfnis zu kommunizieren ist immerhin fließend. Vielleicht reichen am Anfang ein paar einfache Worte.

Also nur das Wichtigste: Ich will dich wissen lassen, dass wir im Herzen doch gleich geblieben sind, auch wenn wir seit einer Ewigkeit nicht mehr miteinander gesprochen haben. So simpel, so tiefgreifend.

Doch wie will ich dich das wissen lassen?

Vor hundert Jahren hätte ich dir locker-flockig einen Brief geschrieben und per Postkutsche verschickt. Ich stelle mir gerade vor wie ich da sitze und meine Feder in das Tintenfass tauche.  Wie die Tinte gemütlich die Einkerbung hinunterläuft und ich ansetze, um die Worte mit exakten, schwungvollen Bewegungen auf das Papier zu bringen.

Ach ja, heutzutage sieht das etwas anders aus. Immer noch starre ich mein Handy an. Das Eingabefeld für SMS-Nachrichten blickt mit unglaublicher Gleichgültigkeit zurück. Um mich herum knallen Sektkorken. Ich kriege davon kaum etwas mit.

Im Grunde genommen kommt es auf das Wie nicht an. Es kommt auf das Was an. Und auf dich und mich. 

Die richtigen Worte zu finden…eigentlich müsste sich nach so langer Zeit da allerhand zusammengestaut haben. Aber mein Stirnlappen ist wie leergefegt. Der rechte Daumen schwebt über der Tastatur. Es ist ihm sichtlich unangenehm. Ich dränge ihn, mit purer Willenskraft, zu schreiben. Komm schon, du Werkzeug, tue deine Pflicht. Er tut sie nicht.

Warum muss es so schwierig sein, geht denn nichts aus dem Bauch heraus? Ich verfluche mich und meine Hemmungen. Ich ärgere mich so sehr, dass ich einfach die Augen schließe und langsam ein- und ausatme. Ein- und ausatme. Nun denke ich nicht mehr nach. Mein Daumen huscht über die Tasten. Ich lasse die Buchstaben einfach fließen.

Nach dreizehn Wörtern und drei Sätzen hab ich alles gesagt, was gesagt werden muss. Es ist nicht unglaublich viel, aber es bringt es auf den Punkt. 

Ich bin du und du bist ich. Wir sind eins. Vergiss das nicht.

Ein Klick auf „Senden“, schon ist es geschehen. Knapp über mir geht eine Rakete hoch und lässt einen Funkenregen auf mich niederprasseln. Ich bleibe stehen. Wartend…und hoffend. 

Auf ein gutes neues Jahr.

Samstag, 4. Januar 2014

Mein Traum

Neulich bin ich kurz aufgewacht.

Ich rieb mir den Schlafsand aus den Augen und schaute mich um, war noch nicht ganz da. Lange hatte ich geschlafen und geträumt, so lange, dass ich mich in der realen Welt erst einmal zurechtfinden musste. Verschlafen stand ich auf, ging in die Küche und machte mir Frühstück. Währenddessen lief der Fernseher und verbreitete Informationen, die niemanden interessierten. Scheinbar nicht mal die Frau, die sie vorlas. Verwundert sah ich sie mir einen Moment lang an. Wie man Nachrichten derart unbeteiligt und emotionslos vortragen konnte, war mir ein Rätsel.
Ein paar Minuten später war ich soweit und brach auf in Richtung Uni. Ich wohnte ganz in der Nähe, den Weg konnte ich zu Fuß gehen, mit Zwischenstopp beim nächsten Bäcker, weil ich doch in der ersten Vorlesung immer noch einmal Hunger bekam. Ein kleines Glöckchen kündigte bimmelnd meine Ankunft an.
„Was darf es denn sein?“ fragte mich die Verkäuferin.
Ich sah mir die Auslage an und zählte auf, was ich brauchte. Als die kleine dicke Frau hinter dem Tresen mir die Tüte mit meinen Einkäufen überreichte, schaute ich ihr ins Gesicht, einen Dank auf den Lippen.
Leer.
Die Augen waren wie zwei Bergwerksstollen, tief, unergründlich, aber vollkommen leer. Ich schrak zurück und stolperte fast über meine eigenen Füße. Was stimmte hier nicht? Abermals sah ich die Frau an. Rein physisch waren ihre Augen ganz normal. Aber dennoch... irgendetwas fehlte. Irgendetwas, das diesen Haufen Zellen zu einem menschlichen Wesen gemacht hätte. Was war hier los? Hastig blickte ich mich in dem Raum um, in dem noch ein paar heruntergekommene Gestalten ein billiges Frühstück zu sich nahmen. Von ihnen schien keiner etwas mitbekommen zu haben. Erneut musterte ich die Frau. Für mich war es so deutlich, dass bei ihr etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Warum konnte das sonst keiner sehen? Es sei denn...
Ich ging zu einer der abgehalfterten Figuren, die stumm über ihrem Papp-Kaffeebecher brüteten. Interessiert setzte ich mich ihm gegenüber und schaute ihm in die Augen. Die selbe Leere.
Ich stand wieder auf und stürmte aus dem Bäckerladen. Die Leute dort drinnen waren irgendwie krank, so viel war klar. Etwas hatte ihnen das genommen, was sie zum Menschen gemacht hatte, wie auch immer das vor sich gegangen sein mochte. Ich musste unbedingt jemanden veranlassen, ihnen zu helfen!
Atemlos rannte ich auf einen Passanten zu und griff ihn am Ärmel.
„Schnell, dort drinnen sitzen mehrere Leute, mit denen irgendetwas nicht stimmt. Sie können sich bewegen, aber sie sitzen nur apathisch da und auch die Bäckerin ist irgendwie seltsam, so unmenschlich...“
Ich merkte, dass ich nicht sonderlich gut erklärte. Ich hätte mir wohl vorher zurechtlegen sollen, was ich sagen würde. Gerade wollte ich einen neuen Anlauf unternehmen, da drehte sich der Mann, dessen Ärmel ich noch immer gefasst hielt, endlich zu mir um und sah mir in die Augen. Sofort ließ ich ihn los.
Leere Augen.
„Ich bitte Sie, ich glaube, Sie sind etwas verwirrt. Beruhigen Sie sich erst einmal.“
Ungläubig starrte ich ihn an. Er hatte tatsächlich zu mir gesprochen. Trotzdem fehlte auch ihm jener... Glanz in den Augen, der einen davon überzeugt, es mit einem bewusst handelnden Wesen zu tun zu haben. Ja, das war es! Auch die Bäckerin hatte ja ihre Arbeit ganz normal verrichtet und auch mit mir gesprochen. Sie schien es nur nicht aus eigenem Antrieb zu tun, sondern wie automatisiert. Der Mann war inzwischen weitergegangen und auch ich setzte mich wieder in Bewegung. Auf meinem Weg in Richtung Universität schaute ich in verschiedenen Läden vorbei. Überall war es das gleiche. Die Leute verrichteten ihre Aufgaben ganz gewissenhaft, aber keiner von ihnen schien auch nur wahrzunehmen, was er tat.
Endlich angekommen stürmte ich in den Hörsaal. Wie erwartet stand der Professor vorne und erläuterte einen komplizierten Sachverhalt, während Reihe um Reihe geduldiger Studenten dasaßen und ihren Blick auf ihn gerichtet hatten. Ich ging von Reihe zu Reihe und sah ihnen in die Augen.
Nichts.
Absolut nichts. Mir war sofort klar, dass hier niemand wirklich etwas aufnahm. Es war, als hätte jemand, der von einem anderen Stern gekommen war, ein Abbild von der Welt erstellt, und dabei versucht, nur durch flüchtige Beobachtungen ihre grundlegenden Mechaniken zu verstehen. Alle machten genau das, was sie sonst auch machten, nur dass sie es taten, ohne sich dessen bewusst zu sein, ohne Auseinandersetzung mit der Welt, ohne Wahrnehmung, Reflexion, Abwägung verschiedener Möglichkeiten... Sie alle lebten nicht mehr. Sie funktionierten.
Ich verließ die Universität und ging durch die Stadt. Auch die Leute, die frei zu haben schienen und einfach die Straße entlangschlenderten waren Teil der großen Maschine, die immer weiter lief und lief, ohne einen Sinn zu haben und ohne dass auch nur jemand nach Sinn oder Unsinn des Ganzen fragte. Schließlich legte ich mich in einem Park auf eine Wiese und sah in den Himmel. Ringsum saßen Menschen auf Picknickdecken und führten automatisiert genau die Unterhaltungen, die auch sonst an einem Platz wie diesem zu hören gewesen sein würden. Nur dass hier im Moment keiner etwas damit verband. Wie hatte es so weit kommen können? Was war mit dieser Welt passiert? Mit diesen Gedanken im Kopf schlief ich endlich wieder ein.

Ich träumte, ich sei hier in meinem Zimmer, diese Geschichte schon eingetippt. Sofort machte ich mich auf die Suche nach anderen Menschen, ging hinaus auf die Straße und sprach fremde Leute an, sah ihnen tief in die Augen, um herauszufinden, ob auch sie so seelenlos, gefühllos seien, wie die, die ich vor dem Einschlafen gesehen hatte, aber mit den Menschen hier scheint alles in Ordnung zu sein.
Inzwischen weiß ich Bescheid. Ich habe lange darüber nachgedacht und habe endlich die Wahrheit verstanden. Diese ganze Welt ist nur ein Traum von mir. Auch ihr werdet nur von mir geträumt. Von der echten Welt habe ich bisher nicht mehr gesehen, als das, was ich neulich in meiner kurzen wachen Phase beobachten konnte. Ich lebe nicht in der Realität. Aber das ist mir egal. Zum ersten Mal bin ich kurz aufgewacht, habe einen flüchtigen Blick auf die Realität werfen können, und dabei gelernt, sie zu fürchten. Ich will nicht wieder aufwachen. Die Realität ist nicht das, was ich will. Sie ist vielleicht wirklicher, aber sie ist nicht die Wirklichkeit meiner Wahl. Vielleicht, wenn ich sie lange genug ablehne, wird sie eines Tages weniger wirklich werden und mein Traum wird das sein, was zählt. Möglicherweise ist es sogar schon so. Ist eine Wirklichkeit wirklich, wenn keiner an sie glaubt? Ich will nicht an sie glauben, ich weigere mich. Ich bin nicht für die Realität geschaffen.


Nur für einen Traum.