MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Sonntag, 23. März 2014

Dem Tag mal so richtig die Meinung geigen




Von Mr. Big




Sonntagmorgen. Ein neuer Frühlingstag war angebrochen. Ich stand voller Elan aus meinem Bett auf und stellte mich splitterfasernackt vor den Spiegel. Zutiefst beunruhigt schaute ich auf den Bierbauch, der sich urplötzlich an mir materialisierte. Du musst mehr Sport treiben, probierte ich meinem inneren Schweinehund einzureden. Meinem richtigen Hund versprach ich sogleich, heute würde es wieder auf die Piste zum Joggen gehen. Die Sonne strahlte, die Rotkehlchen zwitscherten, nicht eine einzige Wolke am Himmel  – kurzum, der Tag war perfekt. 

Nachdem ich mich bereits von meinem allzu bequemen Lager erhoben hatte, war die größte Hürde schon genommen. Kaffee war schnell gemacht, die gute alte Pumpe unter der Brust arbeitete wie gewünscht und kam auch schon langsam in annehmbare Taktbereiche. Mein Tatendrang war immens, ich ging in den Wirtschaftsraum und holte mein Paar Laufschuhe aus der Versenkung, in die ich sie letztes Jahr aus Trotz hineinbefördert hatte.

Ach ja, letztes Jahr. Wer hätte denn da ahnen können, dass die Sonne sich einen ganzen Herbst lang nicht zeigen würde? Mit den immer dunkler gewordenen Wolkendecken hatten sich auch meine Stimmung und letztlich meine Ambitionen verdunkelt. So war alles zusammengekommen und die Laufschuhe über Winter zum Nachsitzen in der Kommode verdonnert worden. 

Nun aber war alles anders! Dachte ich zumindest. Denn dicht am Horizont war etwas aufgetaucht, was ich da gar nicht haben wollte: Eine schwarze Wolke. Panik machte sich breit. 

„Oh mein Gott, das ist kein gutes Zeichen, das ist gar kein gutes Zeichen. Der Vorbote der Sintflut ist da. Gleich wird’s regnen. Scheiße, Scheiße, scheiße. Dabei wollte ich doch laufen. Edgar? Guck mich bloß nicht so an, ich kann ja auch nichts dafür. Guck mich jetzt bitte nicht so an!“

Zur Erklärung sei hier anfügt, dass Edgar der Name meines Mischlingsrüden ist, einem Goldstück von einem Hund. Spielfreudig und laut war er, dazu treu bis in die letzte Zelle.
Edgars Blick hing an mir. Diese treu-doofen Augen, denen du nichts abschlagen kannst. Sie riefen förmlich: „Lass uns laufen gehen! Komm schon, du Fettsack“, aber auf eine liebe Weise!

Ich wendete mich von ihm ab, wieder meinem heimlichen Gegner zu. Diese verflixte Wolke war spürbar näher gekommen. Und sie war größer geworden. Ich starrte in die Fratze eines unnachgiebigen Wetterphänomens, das mir den Tag zu versauen drohte. 

Aber nicht mit mir, nein, noch war das Licht stark, noch drückte die Sonne mit aller Kraft die Leidenschaft in mein Gesicht. Wenn ich nur schnell genug wäre, könnte ich unter Umständen einmal um den Block joggen, ohne einen Tropfen dieser Bestie in Wolkengestalt abzubekommen. Ich ging zu meinen Schuhen. Verdammt, wo waren die Schnürsenkel? Im Trockner, du musst sie gestern noch gewaschen haben, du Idiot! Schnell, das sind alles wertvolle Sekunden. Schon für weniger sind Bob-Teams bei Olympia von den Medaillenrängen gefallen. 

Als ich sie endlich an der Trommel klebend entdeckte, traute ich zuerst meinen Ohren kaum. War das ein Donnergrollen gewesen? Nein, das konnte nicht sein. Das ging einfach zu schnell.  Ich hastete wieder in Richtung Schuhe und sah dabei aus dem Fenster vor der Tür. Das gibt’s doch nicht. Dieses schwarze Mistding hatte Verstärkung geholt!

An dieser Stelle möchte ich kurz erwähnen, ich bin kein Rassist. Eigentlich bin ich einer der tolerantesten Menschen überhaupt. Ich bin für die gleichgeschlechtliche Ehe, großer Fan von Barack Obama, dem ersten schwarzen amerikanischen Präsidenten und dafür, dass der Hamburger SV ruhig absteigen darf. 

Aber in diesem Fall schaltete mein Hirn kurz in den Wetterfaschismusmodus und hechelte Parolen gegen die schwarze Bedrohung am Himmel. Was zum Teufel bildeten die sich ein? Wollten die eine Gartenparty veranstalten? So nach dem Motto: „Hey, lass mal heute hier abregnen.“ Mindestens sechs kleine Wolken hatten sich nämlich meiner großen schwarzen Wolke angeschlossen, die mittlerweile nicht nur groß und schwarz war, sondern, oh Schreck, nun auch noch mit ihrer Fläche die Sonne zu verdecken drohte.



Die Lebensfreude schwand aus meinem Gesicht. Edgars und meine Kinnlade fielen herunter. Was für ein Scheißdreck. Nein, so einfach konnte mir diese verdammte Wolke nicht den Tag versauen. In einem Impuls öffnete ich das Fenster und rief wie wild:
„Du schwarzes Stück Scheiße, verzieh dich aus meinem Blickfeld.“ 

Ich muss an dieser Stelle erneut erwähnen, ich bin kein Rassist. Ich würde mich eher als konfliktvermeidenden Menschen beschreiben, der gerne in Harmonie lebt. Nur wenn du sowas brüllst, während ein Mitbürger afrikanischer Abstammung an deinem Hause vorbeiläuft, fällt jeder Erklärungsversuch verdammt schwer.

Nach einem Blick, der eine Mischung aus SAW eins bis sieben beinhaltete, trottete der arme Kerl weiter. Sein Tag war eindeutig versaut. Meiner droht es gerade in diesem Moment zu werden.

Jedes Mal, jedes gottverdammte Mal, wenn ich den Tag gerade so richtig nutzen wollte, passierte irgendetwas Unvorhergesehenes. Wetterumschwünge, Paketlieferungen. Abwasch machen, Einkaufen gehen. Nie kam ich dazu, mich einfach hinzugeben und auf den Wellen der Zeit dahin zu schwimmen. Ich wurde wütend. Richtig wütend.

Ich spürte, wie sich die Wut Zelle für Zelle in mir aufbaute, wie die Hass-Energie in meinem Körper zunahm, eine Linie bildete, mich von oben bis unten durchströmte. Mit einem Gefühl unbeschreiblicher Kraft in mir, konnte ich plötzlich nicht anders. Ich griff in den Himmel. 

Es war nicht einfach, trotzdem bekam ich ihn schließlich zu fassen. So zog ich diesen ganzen, verdammten Tag durch das Fenster und setze ihn mitsamt seiner schwarzen Wolke an meinen Wohnzimmertisch. 

Etwas erstaunt schaute mich der Tag an. Normalerweise schienen Leute wohl nicht so rabiat mit ihm umzugehen. Harte Zeiten erfordern nun mal harte Maßnahmen. Nichtsdestotrotz spürte er die Gefahr und wollte fliehen, als ich ihn zu fassen bekam und zurück auf seinen Stuhl fixierte. Ich nahm die Schnürsenkel, die noch immer in meiner Hand baumelten und fesselte ihn an das gute IKEA-Akazienholz. Das saß er also nun, der Tag, der mir entwischen wollte. Und seine Begleitung, die fette schwarze Wolke, direkt neben ihm, wie ein unartiges Schoßhündchen.

Mein Hund Edgar knurrte sie an. Die Wolke knurrte zurück.

Ich merkte, dass Spannung in der Luft lag.

„Was willst du von mir.“, sprach der Tag.
„Reden.“, sagte ich in bester Bond-Manier.
„Was ist hier los, wieso hast du mich vom Himmel geholt.“
„Du wolltest alles kaputt machen, du und deine falschen Versprechungen. Da hab ich echt keinen Bock mehr drauf! Jetzt ist Schluss.“
„Alter, du kannst mich nicht einfach runterholen.“
„Ich kann mir einen runterholen, wann ich will!“ Upps, das war in dem Moment etwas zu automatisch rausgekommen.

Der Tag schaute nervös von rechts nach links. Er spürte, dass er ziemlich in der Klemme steckte.

„Okay, beruhige dich, meiner. Sag mir einfach, was du willst.“
„Ich will, dass du deinen großen, schwarzen Freund hier nimmst und ihn gefälligst von der Sonne fernhältst. Soll er woanders abregnen. Aber nicht hier, nicht heute, nicht mit mir, mein Freundchen!“

Die Wolke knurrte mich an. Wenn ich gewusst hätte, wo ihre Augen wären, sie hätten mich in diesem Moment voller Abscheu angestarrt.

„Gut, und was kriege ich dafür?“
Hm, gute Frage. Ich überlegte.
„Eine Lehrstunde in guten Manieren“, polterte ich weiter, „was fällt dir überhaupt ein, immer so schnell zu vergehen? Immer, wenn man Spaß hat, schwupps, bist du schon wieder vorbei. Und bei einem richtigen Scheißtag, da ziehst und ziehst du dich in die Länge, das ist nicht mehr feierlich.“
„Alter, du hast Probleme!“
„Ja! Noch dazu kannst du deinen Kumpel, dem Wetter, mal sagen, es soll gefälligst aufhören, immer dann Regen zu schicken, wenn Wochenende ist. Das kann er von mir aus von Montag bis Freitag tun, wenn ich arbeite, aber nicht wenn ich rausgehen und joggen will.“
Die Wolke kläffte mich an und spuckte Regentropfen nach mir.
„Knurre nicht so rum, zu dir komme ich später!“

Edgar beschnüffelte derweil die Wolke an ihrem Hintern. Zumindest glaubte ich, dass er das tat, so genau war das nämlich nicht auszumachen. Sein Kopf steckte mittlerweile viel zu tief drin im Kondensat.

„Jetzt hör mal zu.“, setzte der Tag an, „Ich kann schauen, was ich tun kann. Aber man, du musst schon auch was dafür tun, das Beste aus mir zu machen. Jetzt mal ehrlich, wärst du denn heute Laufen gegangen, wenn ich nicht mit meiner Wolke Gassi gegangen wäre? Ich habe dich den ganzen Vormittag beobachtet und für mich sah es nicht so aus, als ob du wirklich rauskommen wolltest.“

Edgar starrte mich ungläubig an. Nicht irritieren lassen. Jetzt bloß schnell wieder an meinen supergeilen Redefluss anknüpfen!

„Ne, ne, ne, ne. Das siehst du völlig falsch. Ich habe mich nur noch nicht, äh, passend aufgewärmt, genau. Weißt du, wie komplex die Sportart Jogging überhaupt ist? Da kannst du nicht einfach aufstehen und losgehen. Auf Erwärmung und Schuhwerk kommt‘s an.“ Ich hielt meine verstaubten Treter hoch.
„Das, mein Freund, ist ein Laufschuh. Und genau sowas brauche ich auch, sonst laufe ich mir noch unangenehme Blasen. Außerdem…“, ich begann mich etwas behäbig zu dehnen und strecken, „ sollte man nach so langer Pause zumindest ein bisschen Vorbereitung betreiben.“ Meine Knochen knirschten vor sich hin. Für jedes Jahr, das ich auf dem Buckel hatte, gab’s einen Knacks.
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Denk mal drüber nach mit wem du hier sprichst. Ich bin nicht irgendeiner deiner Kumpels, die das so einfach hinnehmen, geschweige denn dein leichtgläubiger Hund.“
Edgar verstand nicht ganz, was er damit meinte, sondern kratzte sich nur an der Schläfe.
„Komm schon, sag ihm, warum du immer noch in deinen vier Wänden hockst.“
„Na weil, weil…ich auch noch auf ein Paket warte, die Wäsche waschen muss, der Geschirrspüler voll ist, die Rechnungen bezahlt werden müssen und ich nebenbei Sport treiben muss. Sonst flippe ich aus, wenn ich mich das nächste Mal im Spiegel betrachte.
„Es ist Sonntag, da kommt keine Post. Die Wäsche, die hast du gestern schon gemacht. Deine Rechnungen sind bereits bezahlt und wenn ich dich so anschaue, ist das von sportlicher Betätigung schon seit Monaten keine Rede mehr. Merkst du, wie löchrig deine Argumentation ist?“

Edgar blickte mich erschrocken, wenn nicht sogar wütend an. Er wechselte die Seiten und nahm neben der Wolke platz.

Da waren sie also. Die Wolke, der Tag und Edgar mit seinen Hundeblick. Diese Augen, die du nicht anlügen kannst…ich rang um Fassung. Meine Körperspannung löste sich, die Wut verfloss und wich der Niedergeschlagenheit. Innerhalb weniger Momente hatte mich die geballte Übermacht überwältigt.

 „Okay, ich gebe es ja zu. Schon möglich, dass es mir den ganze Tag ein bisschen an Motivation gefehlt hat. Aber das ändert nichts daran, dass du auf meine Joggingstrecke pissen wolltest“, sagte ich, während meiner Finger auf der Wolke ruhte.
„Sie wollte nur ihr Gebiet markieren. Macht dein Hund doch auch nicht anders.“
„Das tut nichts zur Sache, Tag!“
„Jetzt hör aber mal auf, du beschuldigt gerade mich, dass Ich Schuld an deinem schlechten Ich bin. Aber dabei musst du doch entscheiden, was du aus Mir machen willst. Denk mal drüber nach. Kann es sein, dass du mich einfach nicht ordentlich nutzen kannst und deswegen so sauer bist?“

Oh man, jetzt hatte der Tag auch noch ein Diplom in Psychologie. Das war ja zum Verzweifeln. 

„Ja, das kann schon sein, dass das irgendwie eine Rolle spielt. Ach verdammt, ich weiß doch auch nicht, was mit mir los ist in letzter Zeit“, platzte es aus mir heraus.
„Sieh mich doch an, ich laufe hier den ganzen Tag auf und ab, ohne etwa auf die Reihe zu kriegen. Noch dazu bin ich fett geworden. Der Wanst ist vor Weihnachten noch nicht dagewesen!“

Edgar schnaubte in sein Fell. Hatte mein Hund gerade mit einer menschlichen Geste der Ungläubigkeit geantwortet? Egal.

„…jeder Schritt tut mir weh. Ich bin total außer Form und die Laufschuhe…die sind total verstaubt! Dabei habe ich die erst letztes Jahr neu gekauft. Mit bester Empfehlung des Verkäufers. << Sie werden wie auf Wolken laufen >>,  Recht hatte er, nur weiter als bis zum Briefkasten hat es mich trotzdem nicht beflügelt. Naja und dann kam halt dies und das zusammen, ich war verzweifelt und schon hab ich dich vom Himmel gezerrt. Es tut mir ja leid. Tun die Stricke eigentlich weh? Ich hab dich ziemlich festgeschnürt.“

„Nee, alles okay, bin Schlimmeres gewohnt. Du hast ja keine Vorstellung, wie unangenehm mein Job manchmal ist. Man kann es nie allen Recht machen, ich hab es versucht. Mal hier ein Fünkchen mehr Zeit zugegeben, mal da ein Momentchen länger die Sonne stehen lassen. Aber an manchen Tagen, da wollen die Leute, dass ich am besten nie zu Ende gehe. Und dann gibt es diese Tage, wo die Menschen von einem Scheißhaufen in den nächsten treten, und mich verfluchen. Was für den einen ein toller Tag ist, ist für den nächsten der letzte Dreck. Es gibt so viele Facetten, wie willst du da sieben Milliarden Menschen gegenüber gerecht bleiben? Ich glaube aber, gerade weil ich so unbeständig bin, macht mich das doch erst interessant für euer Leben. Ihr wisst nie, was ich euch morgen bringe und dürft jedes Mal auf neue probieren, das Beste draus zu machen. So ein Vergnügen hab ich nicht…
Tja, ich würde ja gerne noch eine Weile mit dir plaudern, aber trotzdem wäre es langsam eine gute Idee, wenn du mich wieder losmachen würdest. Ich kriege sonst Probleme mit dem Zeitplan und du willst wegen so einer Sache doch keinen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum riskieren, oder?“

Ich überlegte kurz. Nein, das wollte ich wirklich nicht. Da würden wahrscheinlich eine ganze Menge Leute sauer auf mich werden. Ich fasste mir ein Herz und band den Tag unter bellender Begeisterung der Wolke wieder los. Zur Freude bellte Edgar gleich mit und beide schmusten sich tierisch aneinander. Paarungsversuche waren zu erkennen. Ich stand etwas irritiert und auch ein bisschen angewidert daneben und beobachtete das Schauspiel.

„Tja, ich würde sagen, ich mach dann mal los. Guten Tag“, sagte der gleichnamige Gesell.
„Halt, warte, kannst du mir vielleicht einen Tipp geben, wie ich machen kann, um diesen inneren Schweinehund zu überwinden?“
Er dachte nach.
„Eins kann ich dir raten. Gib nicht bei jeder Kleinigkeit gleich mir die Schuld. Im Grunde genommen bist du doch frei,  in dem, was du tust. Ich biete dir nur die Leinwand. Du musst zum Pinsel greifen und deine Mona Lisa draufmalen. Und denk nicht soviel nach, während du das tust. Hat da Vinci übrigens auch nicht gemacht. Der Schelm. Es ist auf jeden Fall immer schrecklich mit anzusehen, wie euch Menschen auf der Couch die Köpfe qualmen. Geht einfach raus an die Luft und stellt was Verrücktes mit mir an.“


Und mit einem Zwinkern erhob er sich und verschwand er aus dem Fenster.
Edgar und die Wolke schauten sich noch ein letztes Mal tief in die Augen, dann verschwand auch sie und nahm wieder ihren Platz am Himmel ein. Mein Hund ließ einen herzzerreißenden Seufzer los.

Mittlerweile war die Wolke schon so weit weggezogen, dass die Sonne wieder mit aller Klarheit auf mich hinabschien. Zum ersten Mal seit langem spürte ich einen Antrieb in mir.
„Nun gut, dann lass mal was aus dem Tag machen, Edgar“, sagte ich und nahm die Schnürsenkel in die Hand. Jetzt noch schnell einfädeln und schon konnte es losgehen. Ich trat aus der Tür und schaute gespannt in den Tag hinein.
Perfektes Laufwetter. Von Regen keine Spur.


Dienstag, 18. März 2014

Wenn man die Kunst zu Grabe trägt

Als Kramer starb trauerten Millionen. Menschen überall auf der Welt legten eine Schweigeminute ein, Gedenkfeiern wurden gehalten und es gab kaum einen Fernsehsender, der nicht mindestens eine Sondersendung zu dem Thema brachte, voller Erinnerungen an das lange und erfolgreiche Leben des Entschlafenen. Berühmtheiten jeder Art fühlten sich berufen, Worte der Trauer und des Schmerzes, Worte der Anerkennung und des Respekts, lobende, ja geradezu rühmende Worte über den Dahingeschiedenen an die trauernden Massen zu richten, die wiederum diejenigen, die die besten Worte fanden, mit Aufmerksamkeit, zum Teil sogar Anhängerschaft belohnten.
Kramer war zu Lebzeiten ein äußerst bekannter Autor gewesen. Er hatte Bücher verfasst, die mit ebensoviel Witz wie Scharfsinn die Verhältnisse auf der Welt thematisiert und nicht selten scharf kritisiert hatten. Viele hatten ihn für seinen Mut bewundert, den jeweils Herrschenden so ehrlich die Meinung zu sagen, andere hatten seinen Sprachstil oder die Geschichten geliebt, die er in seinen Büchern erzählt hatte. Auf der ganzen Welt dürfte es jedoch kaum einen Ort gegeben haben, an dem dieser Mann nicht bekannt war.

Seinen Tod erlebte Kramer wie das Aufwachen nach einem langen Schlaf. Eben lag er noch in seinem Bett im Krankenhaus und atmete unregelmäßig und stoßweise, da sah er auf einmal ein helles Licht. Plötzlich wurde sein Atem ganz leicht und frei. Er ging ein paar Schritte auf das Licht zu, während er halb belustigt, halb beeindruckt darüber nachdachte, wie klischeehaft dies alles doch war. Angst hatte er keine. Er hatte den Tod schon lange erwartet gehabt und sich zu Genüge darauf eingestellt. So war er, neben seinem Erstaunen über das, was um ihn herum vorging, hauptsächlich neugierig. Kramer war kein religiöser Mensch, doch er hatte Zeit seines Lebens damit gerechnet, nach seinem Tod noch in irgendeiner Form weiterzubestehen, und nun bot sich ihm endlich die Gelegenheit, herauszufinden auf welche Art und Weise. Kramer registrierte, dass seine Umgebung sich verändert hatte. Interessiert sah er sich um. Er befand sich nicht mehr im Krankenhaus, ganz eindeutig nicht. Seine Umgebung war weiß und neblig, dabei aber von einer enormen Helligkeit, die die Augen jedoch nicht anstrengte. Beim Blick zur Seite bemerkte er, dass aus dem weißen Nebel, der ihn umgab, langsam Formen zu wachsen schienen. Wände bauten sich zu seiner Seite auf, und Kramer registrierte auch, dass er nun auf einem Fußboden stand und nicht mehr einfach im Raum hing. Schnell wandte er den Blick wieder nach vorne. Das helle Licht, zu dem er unterwegs gewesen war, hatte sich ein Stück entfernt. Es lag jetzt am Ende eines langen, vollkommen weißen Ganges, der sich in Windesschnelle gebildet hatte.
Kramer zuckte die Schultern und begann, den etwas krankenhausmäßig wirkenden Flur zu durchschreiten.
Zahllose Türen tauchten zu seiner Rechten und Linken auf. Kramer versuchte, die Schilder an den einzelnen Zimmern zu lesen, aber er war zu schnell unterwegs und konnte die Worte daher nicht entziffern. Er versuchte, langsamer zu gehen, aber irgendetwas schien ihn zu zwingen, sein straffes Tempo beizubehalten. Ein bisschen hilflos sah er sich um, aber es war niemand da, der ihn hätte aufhalten können. Schließlich hörte Kramer auf, sich auf die Dinge an seinen Seiten zu konzentrieren und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem hellen Licht am Ende des Ganges. Je näher er ihm kam, desto mehr kam ihm das Aussehen der Lichtquelle bekannt vor. Schließlich stand er genau davor.
Eine Tür.
Eine hellgraue Brandschutztür, schon etwas verbeult, aber offensichtlich noch benutzbar. Im Grunde sah die Tür aus, wie sie aussehen musste. Wenn man das starke Leuchten nicht beachtete, das sie ausstrahlte. Beachtete man es aber doch, dann gab es auf einmal nichts mehr gewöhnliches an dieser Tür. Sie schien voller Magie zu stecken, eine Materie gewordene Einladung, endlich herauszufinden, was dahinter war.
Kramer zögerte kurz. Was sollte er tun? Einfach eintreten? Gab es eine Möglichkeit, sich vorher anmelden zu lassen? Schade, dass es hier keine anderen gab, nach denen er sich hätte richten können.
Schließlich gab Kramer sich jedoch einen Ruck. Die Neugierde, die schon die ganze Zeit über in ihm bohrte, gewann die Überhand. Als eine Art Kompromiss ließ er dennoch ein dreimaliges lautes Klopfen hören. Als niemand antwortete trat er endlich ein.

***

Kramer fand sich in einem mittelgroßen Raum mit weißen Wänden wieder. Die Tür, durch die er eben hereingekommen war, hatte direkt gegenüber – in etwa vier Metern Entfernung – ein Gegenstück, das wohl in den nächsten Raum führte.
Im Raum standen ein paar Stühle und ein kleines Tischchen, auf dem einige zerfledderte Zeitschriften lagen. Das ganze Zimmer wurde von einem sehr hellen, aber freundlichen, unaufdringlichen Licht erhellt, das in jedem Winkel gleich stark zu scheinen schien. Kramer hob seinen Blick zur Decke, um herauszufinden, welche ungewöhnliche Lichtquelle für eine derartige Beleuchtung verantwortlich sein konnte, aber er konnte keine Decke ausmachen. Auch Wände, so fiel ihm jetzt auf, waren keine zu erkennen. Die einzige erkennbare Begrenzung des Raums waren die beiden Türen. Zu den Seiten hingegen schien das Zimmer sich noch nicht für feste Maße entschieden zu haben. Es war nicht etwa offen, so dass man hinaussehen konnte. Vielmehr hatte Kramer das Gefühl, die endgültige Größe des Areals stünde noch nicht fest. Der Raum könnte sich noch kilometerweit fortsetzen. Genauso gut könnte er aber nach vier oder fünf Metern an einer Wand enden.
Kramer zuckte die Schultern. Das alles war zwar sehr beeindruckend, aber viel schien es hier nicht zu sehen zu geben. Viel wichtiger schien ihm die Frage, wohin ihn die nächste Tür bringen würde. Entschlossenen Schritts ging er darauf zu und drückte die Klinke herunter.
Verschlossen.
Er rüttelte daran, als erwarte er, das ganze werde sich letztlich als Missverständnis herausstellen, ein kleiner Fehler, der innerhalb der nächsten Minute von einem Bediensteten mit entschuldigendem Lächeln behoben werden würde. Dieser Ort hier lud nicht unbedingt zum Verweilen ein, auch wenn er nicht direkt lebensfeindlich schien. Es musste doch einen Weg geben, weiterzukommen?
„Sie rufen dich auf, wenn du dran bist.“
Kramer zuckte zusammen und drehte sich um. Direkt neben der Eingangstür saß jemand auf einem Stuhl. Er musste ihn beim Hereinkommen übersehen haben, war wohl zu beschäftigt gewesen, den Eindruck der Leere an diesem Ort zu verarbeiten.
Der Mann dort auf dem Stuhl schien etwa siebzig zu sein. Er trug ein graues Jacket, eine große Brille und hatte das Haar gescheitelt. Ein bisschen erinnerte er Kramer an einen stark gealterten Streber aus Schulzeiten. Vielleicht Universitätsprofessor.
„Keine Chance da weiterzukommen“, ließ sich der Fremde wieder vernehmen. „Nicht bevor du dran bist. Hier gibt es keine Ausnahmen, egal wer du bist.“
Kramer war empört.
„Egal wer ich bin? Ich bitte Sie. Erzählen Sie mir nicht, dass sie nicht wissen, wen Sie vor sich haben!“
Der andere musterte ihn von Kopf bis Fuß, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
„Ganz ehrlich, keinen Schimmer.“
„Aber mich kennt man auf der ganzen Welt! Jeder ließt meine Bücher! Kommen Sie, der Name Kramer sollte Ihnen ein Begriff sein.“
Der andere Grinste.
„Soweit ich mich erinnere ist dieser Name nicht eben der ungewöhnlichste. Ich hatte zum Beispiel einen Nachbarn, der so hieß.“
„Aber der Schriftsteller Kramer... ich bin berühmt, wissen Sie!“
„Jetzt vielleicht, aber zu meiner Zeit... Hier in der Gegend wirst du kaum einen finden, der mit deinem Namen was anfangen kann. Und berühmt... das sind wir alle. Darum macht hier nun wirklich keiner mehr einen Aufriss.“
Kramer sah sich um.
„Alle? Wer alle? Soviel ich sehe sind wir allein.“
„Die anderen haben sich etwas weiter in den Raum zurückgezogen. Sie wollen nicht jedem Neuankömmling das Gleiche erzählen müssen, irgendwann hat man das einfach satt. Ich bin auch nur so nahe am Eingang, weil ich die Zeitschriften noch nicht ganz auswendig kann. Ich bin ja auch noch nicht so lange hier.“
„Wie lange ist 'nicht so lange'?“
Der Andere überlegte.
„Lass mich rechnen... wir haben 2014, richtig? Dann sind es jetzt... genau 18 Jahre.“
Kramer schrak zusammen. 18 Jahre? So lange wartete dieser Mann schon darauf, durch die Tür gerufen zu werden?
„Das kommt mir aber ausgesprochen lang vor. Müssen alle so lange warten?“
„Es ist selten, dass jemand mit weniger davon kommt. Manche von den anderen sind schon deutlich länger hier.“
Kramer schüttelte verwirrt den Kopf.
„Wer sind das, die anderen?“
„Andere Künstler. Wenn ein Künstler stirbt, kommt er hierher. Da müssen wir alle durch.“
„Das heißt, Sie sind auch ein...“
„...Künstler, ja. Und ein toter noch dazu.“
Kramer war erleichtert, dass dieser Umstand sich von allein geklärt hatte, da es ihm sehr pietätlos vorgekommen wäre, jemanden zu fragen, ob er tot oder lebendig sei. Um seine Unsicherheit zu überspielen fragte er schnell weiter.
„Und wie ist Ihr Name?“
Der andere erhob sich und reichte ihm die Hand.
„Max Bill, zu Diensten. Maler, Architekt und Designer aus der schönen Schweiz. Außerdem ein ganz gewöhnlicher Mensch und mit dir im gleichen Boot, ich schlage also ein Vertrauen förderndes 'Du' vor.“
„Max Bill?“ sagte Kramer unsicher und schüttelte die ihm dargebotene Rechte. „Ich muss ehrlich sagen, dass dieses Mal ich auf dem Schlauch stehe. Müsste ich von Ihnen... von dir gehört haben?“
Max Bill winkte ab.
„Nicht der Rede wert. Nicht jeder Künstler ist so im Bewusstsein der Allgemeinheit verhaftet wie ein Picasso oder van Gogh. Um ehrlich zu sein: Es macht mich froh, zu sehen, dass man sich meiner auf der Erde nicht mehr allzugut erinnert. Nicht alle haben so ein Glück.“
„Wie meinst du das?“
Kramer war noch verwirrter als zuvor. Sein neuer Mentor im Bereich des toten Künstlerdaseins bedeutete ihm mit einem kleinen Wink, ihm zu folgen, und verfiel in einen leichten Schlenderschritt.
„Ich glaube es wird Zeit, dass ich dir etwas mehr über diesen Ort und seine Bewohner erzähle. Sie mal, wenn ein Künstler, egal, welche Art von Kunst er ausgeübt hat, ob er Maler, Bildhauer, Musiker, Schauspieler, Schriftsteller oder sonstwas was, wenn so ein Mensch stirbt...“
„...dann kommt er hierher. Das hast du schon gesagt. Aber was ist das für ein Ort?“
Bill sah ihn missbilligend an, verkniff sich aber jeden Kommentar und fuhr fort.
„Der Raum, in dem wir uns im Moment befinden, ist das Wartezimmer. Keiner weiß, wie groß er eigentlich ist, wo er sich befindet oder wie er aufgebaut ist. Man geht davon aus, dass seine endgültige Größe und Form noch nicht feststehen. Was wir wissen ist, dass er Grenzen hat. Niemand hat sie je gesehen, aber jeder, der das Zimmer betritt, kann genau spüren, dass es sich um einen geschlossenen Raum handelt. Wir haben also keine Beweise dafür. Wir wissen es einfach.“
Kramer überlegte.
„Dann ist dies also ein Wartezimmer wie beim Arzt und alle warten daraum, durch die Tür gerufen zu werden? Aber wann passiert das?“
„Du hast Recht, wir alle hier warten auf das Gleiche. Die Wartezeiten, die wir erwarten, unterscheiden sich jedoch stark. Alles hängt vom Ruhm ab, den ein Künstler in seinen Lebzeiten angehäuft hat.“
„Also doch eine Bevorzugung.“
Kramer war zufrieden.
„Dann bin ich bestimmt bald dran. Als ich noch gelebt habe, kannte mich so gut wie jeder.“
Bill schüttelte den Kopf.
„Es ist nicht ganz so wie du denkst. Eigentlich eher ganz anders.“ Er räusperte sich. „Der Ruhm eines Künstlers bindet ihn an die Erde, stärker, als irgendetwas sonst es könnte. Je mehr Menschen seinen Namen im Munde führen, ja, ihn auch nur denken, desto weniger kann der Betreffende sich von seinem Heimatplaneten lösen. Uns alle verbinden starke Bande mit der Erde und ihren Bewohnern. Beim einen ist die Kraft stärker, beim anderen etwas schwächer, aber bei uns allen reicht sie aus, das wir auf unserem Weg nicht voranschreiten können. Wir müssen warten.“
Kramers Hals wurde trocken.
„Worauf?“ krächzte er mühsam.
Bill betrachtete seine Fingernägel als suche er trotz der augenscheinlich makellosen Reinheit dieses Orts nach Verschmutzungen.
„Vergessen“ sagte er halb abwesend.
Kramer musste es genauer wissen.
„Was meinst du damit?“ fragte er drängend. „Wer muss vergessen? Und was?“
Bill wandte ihm auf einmal den Kopf zu und sah ihm voll ins Gesicht.
„Dich“ sagte er. „Alle Menschen auf der Erde müssen dich vergessen. Keinen Schritt wirst du weiter kommen, keinen Blick hinter die Tür werfen, solange auch nur ein Mensch deinen Namen kennt. Doch damit nicht genug. Auch alles, was an dich erinnern könnte, muss von der Erde getilgt sein. Die Möglichkeit, sich deiner zu erinnern, darf nicht mehr existieren. Erst dann wirst du diesen Raum verlassen.“
„Komplett vergessen? Das heißt, erst wenn meine Werke zerstört sind und keiner sich mehr an sie erinnert werde ich hier herauskommen? Aber das kann ja Jahrhunderte dauern!“
„Ja, das kann es, aber zumindest in einer Sache kann ich dich beruhigen: Deine Werke müssen nicht zwangsläufig zerstört werden. Es reicht, wenn es auf der ganzen Welt keinen Hinweis mehr darauf gibt, von wem sie stammen. Und natürlich darauf, dass es dich einmal gab. Es geht also auch um Lexikoneinträge, Autogrammkarten und alles andere, was deinen Namen trägt.“
Kramer stöhnte.
„Ich werde hier niemals wegkommen. Ich habe Millionen Fans und unglaublich viele Bücher verkauft, die werden niemals alle zerstört werden... Und erst die ganzen Lexika... unmöglich.“
„Nein nein, mein Freund“, Bill klatschte ihm leutselig auf die Schulter, „sieh das doch nicht alles so schwarz. Mit der Zeit schafft es jeder hier raus. Spätestens wenn die Menschheit sich endlich selbst zum Teufel jagt bist auch du erlöst. Außerdem kann ich dir sagen, dass einige hier schon wesentlich länger warten, als du dir vorstellen kannst. Wenn sie es geschafft haben, sich so lange zu beschäftigen, dann kriegst du das auch hin. Na gut, wenn man die drei Zeitschriften auf dem Tischchen da hinten auswendig kann und dann irgendwann so weit ist, dass man jeden einzelnen Artikel auch ohne Probleme rückwärts hersagt, hängt man erstmal ein wenig durch, aber eigentlich findet jeder früher oder später eine neue Beschäftigung. Sieh mal, der da drüben zum Beispiel.“
Auf ihrer Wanderung durch den endlos scheinenden weißen Raum kamen sie zum ersten Mal an einem anderen Menschen vorbei. Es handelte sich um einen älteren Herrn mit etwas krausem Haar, der emsig immer aufs Neue jeden Finger der einen Hand nacheinander mit allen Fingern der anderen berührte und dabei stumm den Mund bewegte, als murmele er etwas vor sich hin.
„Das ist Marc Chagall. Er ist schon mehr als 120 Jahre hier.“
„Ich kenne Chagall“, meinte Kramer aufgeregt, „was macht er da die ganze Zeit?“
„Er zählt die Durchgänge. Dieses Berühren der Finger ist seine Art, sich die Zeit zu vertreiben. Damit es ihn auch wirklich gedanklich beschäftigt zählt er, wie oft mit allen Fingern alle Finger der anderen Hand berührt hat. Die meisten suchen sich früher oder später so eine Beschäftigung. Der einzige Sinn ist, den Verstand nicht zu verlieren. Es ist allerdings fraglich, ob diese Tätigkeiten ihren Zweck erfüllen.“
„Aber da muss er ja... bei welcher Zahl ist er inzwischen? Nach 120 Jahren muss die doch so groß geworden sein, dass er sie in der Zeit eines Durchlaufs nicht einmal mehr denken kann!“
„Soviel ich weiß hat er sich extra für diese Beschäftigung ein eigenes Zahlsystem ausgedacht, um dieses Problem zu umgehen“, erklärte Bill. „Genau weiß ich es allerdings nicht, da er schon vor meiner Ankunft aufgehört hat, mit anderen zu sprechen. Es könnte also genausogut sein, dass er bei hundert immer wieder von vorne anfängt. Macht ja kaum einen Unterschied. Lass uns weitergehen.“
Bill schob den faszinierten Kramer mit sanfter Gewalt ein paar Meter weiter. Hier saß bereits die nächste Gestalt, eine Frau mit kurzen, streng gescheitelten braunen Haaren, die Fäden zwischen ihre Beine gespannt hatte und gerade dabei war, einen weiteren Faden durch die gespannten hindurchzufädeln. Kramer errötete leicht als er bemerkte, dass ihr Oberkörper unbekleidet war.
„Und wer ist das?“
„Hier siehst du Sofonisba Anguissola, eine der erfolgreichsten Renaissancekünstlerinnen. Sie hat zu Lebzeiten viele Portraits gemalt. Hier kann sie das nicht mehr, da es ihr an den entsprechenden Werkstoffen fehlt, aber dafür hat sie das Weben und Nähen für sich entdeckt. Sieh nur, gerade macht sie sich ein neues Hemd.“
„Aber dazu braucht sie doch auch Material. Woher nimmt sie die Fäden?“
„Aus ihrem alten Hemd. Schon vor einigen hundert Jahren, so geht die Sage, ist sie auf die Idee gekommen, ihre Kleidung vorsichtig in einzelne Fäden aufzutrennen und das gewonnene Garn neu zu weben. Über die Jahre hat sie es in dieser Disziplin zur Meisterschaft gebracht. Niemand auf der Erde könnte mit einem richtigen Webstuhl so gute Stoffe weben, wie Sofonisba nur mit ihrem Körper.“
„Beeindruckend.“
Fasziniert sah Kramer zu, wie die Frau mit flinken Fingern den Faden durch die quergespannten Schnüre fädelte und dadurch die Stofffläche auf der einen Seite immer mehr wachsen ließ.
Nach einigen Minuten hatte er genug gesehen und folgte Bill weiter durch die Weite des Wartezimmers.
„Eins verstehe ich nicht“, fing er schließlich an. „Wie kommt es, dass wir überhaupt so etwas wie Kleidung am Leib tragen? Ich meine, wir sind doch tot, oder? Wir sind hier nicht mit unseren Körpern, können also genau genommen auch nicht...“
Bill lachte.
„Das ist im Grunde ganz einfach. Das heißt, wenn man nicht versucht, die Funktionsweise zu erklären. Du wirst den Mechanismus nie verstehen, niemand tut das, aber ich kann dir erklären, was passiert. Jeder, der hierher kommt, kommt ohne Körper an, da hast du Recht. Dieser Ort ist kein Ort im physikalischen Sinne, jedenfalls glaube ich das. Allerdings ist es trotz allem ein Ort, an dem man aussehen muss. Nicht unbedingt besonders gut, aber irgendwie. Daher nimmt jeder Neuankömmling einfach das Aussehen an, das am ehesten seinem Selbstbildnis entspricht. Die meisten sehen dadurch so aus, wie kurz vor ihrem Tod. Manche sind hier etwas jünger, weil sie sich an ihr letztes Aussehen nicht erinnern können oder aber ihr Selbstbildnis nicht davon bestimmt wird. Wie auch immer, man erscheint hier jedenfalls auch mit der Kleidung, die das eigene Selbstbild trägt.“
Kramer sah an sich herunter und bedauerte, nichts eleganteres gewählt zu haben. Ein teurer Anzug wäre ja wohl angemessen gewesen. Außerdem war dieser Ort perfekt dafür: Es gab nicht die kleinste Möglichkeit, ihn schmutzig zu machen!
Aber was hieß hier teurer Anzug? Mit ein bisschen mehr Selbstbewusstsein hätte er zehn oder zwanzig Jahre jünger hier ankommen können. Warum nur war sein Ego nicht so groß, wie die Leute es ihm zu Lebzeiten immer nachgesagt hatten?
Inzwischen tauchten immer mehr Leute auf, die auf Stühlen oder auf dem Boden saßen und den verschiedensten Beschäftigungen nachgingen. Manche hatten ähnliche Marotten wie die beiden, an denen sie vorbeigekommen waren, andere hatten sich ganz andere Zeitvertreibe ausgedacht. Bill kommentierte den einen oder anderen und stellte Kramer dabei einen Wust von Künstlern vergangener Epochen vor. Einige Namen waren ihm ein Begriff, andere hatte er noch nie gehört. Bill versicherte ihm jedoch, dass es auf der Erde noch mindestens eine Erinnerung an jeden von Ihnen gab.
Schließlich ebbte die Flut der verrückten Künstler allmählich ab. Noch weiter hinten schien sich keiner mehr niedergelassen zu haben und Bill schlug vor, langsam umzukehren, als Kramer am äußersten Ende seiner Sichtweite ein graues Etwas zu erkennen meinte. Neugierig ging er näher und Bill folgte ihm. Ein Bündel schien es zu sein, ein kleiner Haufen grauer Tücher, die einfach so in der weiten Weiße lagen. Kramer ging noch näher und meinte auf einmal, etwas unter den Tüchern hervorblitzen zu sehen.
Ein Auge.
Kramer blieb einige Meter vor dem Bündel stehen und betrachtete es noch einmal aufmerksam. Graues Haar spross an einer Seite daraus hervor, struppig und ungepflegt. Mitten aus diesem wuchernden Wald blitzten tatsächlich zwei kleine Äuglein hervor. Bei näherer Begutachtung fiel auch auf, dass sich unverkennbar menschliche Formane unter den Tüchern abzeichneten. Kein Zweifel – hier hockte ein Mensch und starrt die beiden böse an.
„Wer ist das?“ fragte Kramer leise.
„Das“, raunte Bill mit belegter Stimme zurück, „ist einer von denen, die von uns allen die längste Zeit hier verbracht haben. Sein Name ist Phidias, er ist einer der berühmtesten Bildhauer des Altertums.“
„Phidias? Der die Zeusstatue in Olympia gemacht hat? Eines der antiken Weltwunder?“
„Ebender. Fast 2500 Jahre ist er nun schon hier.“
Kramer überlegte.
„Gab es vorher denn keine Künstler? Wer hat sonst die Höhlenmalereien der Steinzeit angefertigt?“
„Natürlich gab es welche, aber an die erinnert sich niemand mehr namentlich. Die hatten das Glück, ihre Namen noch nicht aufschreiben zu können.“
Kramer sah wieder Phidias an. Der antike Bildhauer kauerte noch immer auf dem Boden, strich sich mit den Fingern durch den Bart und sprach scheinbar zu sich selbst. Dabei verdrehte er immer wieder die Augen und verdrehte seine Finger auf eine Weise, dass es einem vom Zuschauen in den eigenen Händen schmerzte. Auf einmal sprang er auf machte ein paar Sprünge, sackte wieder zu Boden und versuchte mit der Hand auf den Boden zu schreiben. Auf einmal schien er dort etwas zu erblicken. Sein Selbstgespräch wurde lauter und hastiger, was nichts daran änderte, dass nichts zu verstehen war. Aufgeregt fuhr er mit dem Finger unsichtbare Zeilen nach, versuchte, etwas auszustreichen, was nicht da war, geriet in Rage und schlug mit den Fäusten auf den Boden, um Sekunden später wieder in tiefes Grübeln zu verfallen.
„Was ist los mit ihm?“
Bill seufzte.
„2500 Jahre sind eine lange Zeit. Er hat mit Sicherheit alles gemacht, was es hier zu tun gibt, hat jede mögliche Beschäftigung ausprobiert, bis ihm nichts mehr einfiel, um die immer länger werdende Zeit zu vertreiben und nun... Es war wohl einfach zu viel für ihn.“
„Was ist mit seinem Aussehen? War er schon immer so...?“
„Vermutlich nicht, aber ich habe noch keinen getroffen, der ihn kannte, bevor er verrückt geworden ist, und selbst noch bei Verstand wäre. Weißt du, auch das Selbstbild kann sich mit der Zeit verändern, und so ändert sich hier eben auch das Aussehen. Mit der Verrücktheit kam wahrscheinlich auch das verrückte Aussehen. Vermutlich könnte es sich auch jederzeit verändern. Er ist sich seiner selbst nicht mehr sicher, daher ist auch sein Selbstbild fragil und sprunghaft.“
Nachdenklich betrachtete Kramer den Grauhaarigen in schmutzige Tücher Gehüllten, der noch immer versunken mit sich selbst sprach.
„Ob es mit mir auch einmal so enden wird? Ist das meine Zukunft?“
Bill schüttelte den Kopf.
„Darüber würde ich mir an deiner Stelle noch gar keine Gedanken machen. Du bist nicht hier, um 2500 Jahre zu bleiben, sondern um den nächsten Tag zu überstehen. Daran halte dich.“
„Und er? Phidias. Kann man denn gar nichts für ihn tun?“
Bill schüttelte den Kopf.
„Wir sind an dieser Stelle machtlos.“
„Aber was ist mit der Tür? Wenn er unten auf der Erde restlos vergessen wurde, wenn er dann also endlich weitergehen kann, in den nächsten Raum, wird es ihm da besser gehen? Wird er dann geheilt?“
Bill warf dem erbärmlichen Rest eines einst genialen Menschen einen letzten mitleidigen Blick zu.
„Das kann man nur hoffen“, sagte er dann. „Das hoffen wir alle.“

Mit diesen Worten wandte er sich ab, um zu den anderen Insassen des Wartezimmers zurückzukehren. Kramer folgte ihm. 2500 Jahre... Der Tod fing ja gut an!