Von Mr. Big
Da sitze ich
nun. Vor mir liegt ein sorgfältig arrangiertes Stück Papier. Es trägt außer
meinem Namen noch keine Erkennungsmerkmale, die darauf schließen lassen, dass
es sich in irgendeiner Form um ein wichtiges Dokument handelt. Gemächlich drehe
ich den Füllfederhalter in meiner rechten Hand hin und her. Es ist mal wieder
Zeit. Ich muss ein Konzept für ein Seminar schreiben.
Ich glaube,
vor mir liegt das Fanal aller geisteswissenschaftlichen Studiengänge. Eine Denkübung,
die zumeist von mehreren Individuen aus geleistet werden soll. Gruppenarbeiten
nennen es die Professoren. Ich nenne es kollektives Nervenkillen. Warum tun wir
uns das an? Weil es der Dozent so will und wir die Credits brauchen…
Nur um
welchen Preis? Auf Individuen in der Gruppe wird keine Rücksicht genommen. Am
Ende muss ein Schriftgut homogenen Inhalts zu Papier gebracht werden. Was ist
es diesmal? Eigentlich völlig egal! Mann kann zu allem ein Konzept schreiben.
Sei es über eine Forschungsfrage, Analysemethoden, oder ein Konzept über das
Konzepte schreiben. Oder wie in diesem Fall: Das allseits beliebte Drehbuch.
Ich muss
sagen, ich studiere wie so viele, „was mit Medien“ und habe deshalb wohl den
Zonk gezogen, was Gruppenarbeit und Konzeptschreiben betrifft. Quasi jedes
Seminar läuft darauf hinaus, Kreativität auf Papier zu pressen und in den Äther
zu schicken. Womit wir wieder beim Thema wären. Das weiße Blatt vor mir. Es
guckt mich höhnisch an. „Komm schon“, flüstert es mir zu,“ komm schon,
beschreib mich, du Sau. Lass alles raus. Komm schon, setz‘ endlich den Stift an
und…“ Ich wende meinen Blick ab. Nein,
das klappt so nicht. Ich muss erst Brainstormen…
Ah, aber es
tut so weh! So viele Gedanken schwirren umher, und ich muss sie einfangen. Dabei
will ich doch eigentlich nur mal dufte herumträumen, aber nein, es muss Gehalt
haben. Oh Brainstorming, wie ich dich verachte! Du Monokel des Grauens, du
infantile Saftpresse meiner Kreativität. Willst mich aussagen, mich durchkauen
und dann auf den Boden spucken. Ich hasse dich, wirklich aufrichtig, weil du
immer zur falschen Zeit auftauchst. Ich habe tagsübergenug Kopfkino, aber
niemals dann, wenn ich es brauche.
Dennoch
probiere ich meine Motivation zurückzuholen, die normalerweise an einem schönen
Tag wie diesen nackig über den Rasen springt, dabei einen Cocktail in der Hand
hält und die Jeopardy-Musik summst.
(Dumm, dumm,
dumm, dumm, dumm, dumm, dumm)
Ich stehe vor
einer Weggabel, mental gesehen. Zwei Möglichkeiten, entweder ordentlich
ranklotzen und meinen Synapsensalat aufräumen. Oder… erstmal beim blauen
Zeitfresser vorbeischauen…
Ich
entscheide mich für zweitens
.
Ich öffne
meinen Browser und gehe zu Facebook. Gleich werde ich mit wohltuenden
Sinnlos-Content zugemüllt, der meine Gedanken an der Wurzel killen wird. Ich
freue mich auf Cat-Content, Videos von Menschen, die sich gegenseitig
verarschen und dem neuen Trend: Posts wie - Es begann alles als normaler Tag,
aber was als nächstes passiert, wird dein Gehirn so dermaßen penetrieren. Mein
Prokrastinationszentrum freut sich schon wie Bolle, also klicke ich beherzt auf
den Anmeldebutton.
Eine Sekunde später,
höre ich den wohlbekannten Chat Sound.
(Bubum bubum)
Es ist Mark,
er möchte wissen, wie weit ich mit meinem Teil des Konzepts bin. Ich schreibe
„Fahr doch zur Hölle, du Spast“ ins Chatprotokoll, will Enter klicken,
entscheide mich aber in letzter Sekunde dagegen und schließe einfach das
Fenster.
Mein
Prokrastinationszentrum wird vom Schlechten-Gewissen-Zentrum in den Solarplexus
geboxt und geht zu Boden. Mark hat gesehen, dass ich seine Nachricht gesehen
habe. Danke, Marc Zuckerberg, für diese tolle Erfindung. Nun muss ich mich mit
meinem Konzept beschäftigen. (Argh)
In dem Moment
fliegt eine zweite Nachricht rein, diesmal von Judith, die auch in meiner
Gruppe ist. Sie schreibt, dass Mark ihr gerade geschrieben hat, dass ich ihn,
als Mark, ignoriere, und dass sie, also Judith, sich doch mal mit mir
unterhalten soll, um mich aufzuklären, dass das so ja mal nicht geht.
Ich befürchte
schlimmes, aber was als nächstes kommt, ist keine Aufforderung, mich endlich
mal auf meinen Arsch zu setzen und das verdammte Konzept zu schreiben, sondern
ein wertvolle Tipp:
„Hey, sieh
das nicht so eng. Think outside the box, dann wird das schon.“
Think outside
the box…
Gar nicht mal
so eine schlechte Idee.
Ich schreibe
Judith, sie sei ein Genie, schließe dann meine Browser und fahre den Computer
herunter. Dann schnappe ich mir mein Stück Papier und verlasse das Haus.
Draußen
scheint mir die Sonne wohlwollend ins Gesicht. Jep, das hat sich definitiv
schon mal gelohnt. Vor mir öffnet sich ein Weg, der mit Steinen gepflastert ist
und an einem kleinen hölzernen Tor endet. Dahinter verläuft ein Fußgängerweg,
der links und rechts zu den anliegenden Straßen führt. Direkt vor mir ist: ein
Busch. Grünes, wucherndes Gestrüpp ohne Sinn und Ziel.
Nun stehe ich
wieder vor zwei Möglichkeiten. Links oder rechts langgehen? Ich überlege kurz, denke
dann an Judiths weise Worte (Think Outside The Box) entscheide mich also für
die Dritte und gehe mitten durch den Busch.
Dabei merke,
dass es sich gar nicht um einen stinknormalen Busch handelt, sondern um ein mit
Dornen versehenes Exemplar. Es piekst und zwackt und kratzt, aber das ist mir
egal. Noch nie in meinem Leben, bin ich einfach geradeaus durch diesen
verflixten Busch gegangen. Also warum nicht jetzt damit anfangen.
Nachdem ich
mich einen gefühlten Kilometer durch
dornenbesetzte und mit Brennnesseln verfeinerte Sträucher geschlagen habe,
öffnet sich das Gestrüpp endlich und gibt eine Lichtung preis. Wow.
Voll
Erstaunen schaue ich aufs Paradies. Auf der großen, grünen Fläche tummelt sich
allerlei Getier. Schmetterlinge und Bienen schwirren umher. In der Luft tanzen
Pollen, so groß wie Schneeflocken. Am Himmel ist nur eine einzige
Schönwetterwolke zu sehen.
Ich atme tief
ein und notiere auf meinem Stück Papier:
Neue Wege ausprobieren. Es lohnt sich.
Ich will
weiter. Ich trete auf die Lichtung und gehe auf das andere Ende zu. Die Wiese
steigt zu einem leichten Hügel an. Rechts und links von mir verschwinden nach
und nach die Bäume, während es immer steiler wird. Wow, so krass habe ich die
Steigung gar nicht wahrgenommen. So langsam muss ich mich mit meinen Händen
abstützen, damit ich den Hügel erklimmen kann. Als ich mit letzter Kraft oben
angekommen bin, trifft mich erstmal der Schock.
Ich stehe auf
der Spitze des Hügels, währen die Welt hinter mir wie von einem Sog abwärts
gedrückt wird. Begeistert von der Aussicht, beginne ich auf mein Blatt zu
schreiben:
Je steiler der Weg, desto besser die
Aussicht.
Nun ist mir
das aber noch nicht genug, Zwar ist der Horizont zum nah, aber zum Greifen nah
ist er noch nicht. Ich gehe also einen Schritt nach vorne und noch einen, und
noch einen, und noch einen und plötzlich stoße ich gegen einen Widerstand.
Meine Nase wird von einer unsichtbaren Wand plattgedrückt. Etwas verdutzt
stolpere ich rückwärts und starre irritiert ins Nichts. Was zum Teufel? Ich
strecke meine Hände aus. Da ist eine Wand. Eindeutig. Ich kann sie nicht sehen,
aber sie ist definitiv da. Ich fühle mich wie in einem schlechten Traum Eine
unsichtbare Barriere versperrt mir den Weg. Ich beginne sie mit meinen Händen
abzutasten. Nope, das ist 1A Handwerkskunst, da ist kein Durchkommen. Ich falle auf die Knie, eine bedrückende Frage
macht sich breit: Bin ich gefangen und habe es die ganze Zeit nicht gemerkt? Ich
greife zu Stift und Papier und schreibe auf:
Am Ende des Weges wartet eine Wand.
Ich stehe
wieder auf. Das kann nicht das Ende meines Weges sein. Verzweifelt schlage ich gegen
die Wand, versuche irgendwie hindurchzukommen, aber es geht nicht. Ich nehme
vor Wut einen Stein und schmeiße ihn dagegen, er fliegt postwendend zurück und
trifft mich an der Schläfe. Autsch. Das hat wehgetan. Ich muss mich anlehnen,
als ich plötzlich eine Fuge bemerke. War die vorher etwa auch schon da?
Komisch, in dieser unsichtbaren Wand scheinen sich rundliche Fugen zu befinden,
in die locker eine Hand oder ein Fuß passen würde.
Think Outside The Box schallt es durch mein Gehirn.
Die Fuge
befindet sich auf Bauchhöhe, das hieße also, wenn ich theoretisch…
Ich nehme
meinen Fuß, stecke ihn in die Einbuchtung und springe ein Stück nach oben.
Meine Hände gleiten hilflos über die Wand, ich drohe herunterzufallen, als ich
unverhofft eine weitere Fuge ertaste und mich daran festkralle. Wow, da macht
sich das jahrelange Bouldern doch bezahlt, schießt es mir durch den Kopf, aber
ich verwerfe den Gedanken schnell wieder, denn meine Vermutung geht noch
weiter. Wo zwei Fugen sind, das sind noch mehr. Etwas unentschlossen hänge ich
in der Luft.
Ich starre in
den Himmel. Keine Ahnung wie hoch die unsichtbare Wand noch geht, egal, ich
werde es herausfinden.
Bis hierher und
noch viel weiter. Ich setze zum nächsten Sprung an. Der Aufstieg beginnt. Je
höher ich klettere, desto stärker schlägt mir der Wind ins Gesicht. Vögel
ziehen an mir vorbei und drehen verwundert den Kopf zu mir um. Den Tieren
scheint die Mauer nichts auszumachen. Unter mir kratzt sich gerade ein Hase an
den Löffeln und fragt sich, was dieser Mensch da mutterseelenallein in der Luft
zu suchen hat.
Als ich
mittlerweile in über hundert Metern luftiger Höhe hänge, kommt mir zum ersten
Mal der Gedanke des Fallens. Was passiert eigentlich, wenn ich hinunterfalle? Ich
schaue nach unten. Es geht brutal herab.
Das
Angstzentrum in meinem Gehirn springt an und pumpt Adrenalin in meine Adern.
Meine Hände in den Fugen verkrampfen sich und beginnen zu zittern, sodass ich
drohe, den Halt zu verlieren.
Das kann
nicht das Ende sein. Ich schließe die Augen und zähle langsam bis zehn. Diese
Wand muss irgendwann aufhören. Einen letzten Satz muss ich wagen. Den größten
und weitesten, den ich je machen musste. Mit purer Willenskraft zwinge ich
meine Muskeln, mir zu gehorchen. Dann ist der Moment gekommen. Alles oder
nichts. Ich springe, fliege, schwebe in der Luft, suche nach Halt, erfasse
plötzlich eine Kante und schwing mich beherzt hinauf.
Ich kann es
nicht fassen. Es ist vollbracht. Ich bin auf dem Rand der Box. Vor mir liegt die
Welt, wie in einer Tupperdose gefangen. Eine erfrischende Brise streicht durch mein
Gesicht. Überglücklich zücke ich mein Stück Papier und schreibe folgenden Satz:
Die Box existiert wirklich. Aber man
kann sie überwinden.
Als ich
fertig mit schreiben bin, drehe ich mich um und schaue in das unbekannte, weiße
Nichts. Wie unverbraucht hier alles erscheint. Hätte ich meinen Laptop zur
Hand, würde ich Judith jetzt eine Facebook-Nachricht schreiben und ihr sagen: „Du
hattest Recht“. Ich mache einen Schritt nach vorne und denke zum ersten Mal in
meinem Leben außerhalb der Box.