MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Freitag, 30. Mai 2014

Think Outside The Box




Von Mr. Big


Da sitze ich nun. Vor mir liegt ein sorgfältig arrangiertes Stück Papier. Es trägt außer meinem Namen noch keine Erkennungsmerkmale, die darauf schließen lassen, dass es sich in irgendeiner Form um ein wichtiges Dokument handelt. Gemächlich drehe ich den Füllfederhalter in meiner rechten Hand hin und her. Es ist mal wieder Zeit. Ich muss ein Konzept für ein Seminar schreiben.

Ich glaube, vor mir liegt das Fanal aller geisteswissenschaftlichen Studiengänge. Eine Denkübung, die zumeist von mehreren Individuen aus geleistet werden soll. Gruppenarbeiten nennen es die Professoren. Ich nenne es kollektives Nervenkillen. Warum tun wir uns das an? Weil es der Dozent so will und wir die Credits brauchen…

Nur um welchen Preis? Auf Individuen in der Gruppe wird keine Rücksicht genommen. Am Ende muss ein Schriftgut homogenen Inhalts zu Papier gebracht werden. Was ist es diesmal? Eigentlich völlig egal! Mann kann zu allem ein Konzept schreiben. Sei es über eine Forschungsfrage, Analysemethoden, oder ein Konzept über das Konzepte schreiben. Oder wie in diesem Fall: Das allseits beliebte Drehbuch. 

Ich muss sagen, ich studiere wie so viele, „was mit Medien“ und habe deshalb wohl den Zonk gezogen, was Gruppenarbeit und Konzeptschreiben betrifft. Quasi jedes Seminar läuft darauf hinaus, Kreativität auf Papier zu pressen und in den Äther zu schicken. Womit wir wieder beim Thema wären. Das weiße Blatt vor mir. Es guckt mich höhnisch an. „Komm schon“, flüstert es mir zu,“ komm schon, beschreib mich, du Sau. Lass alles raus. Komm schon, setz‘ endlich den Stift an und…“  Ich wende meinen Blick ab. Nein, das klappt so nicht. Ich muss erst Brainstormen…

Ah, aber es tut so weh! So viele Gedanken schwirren umher, und ich muss sie einfangen. Dabei will ich doch eigentlich nur mal dufte herumträumen, aber nein, es muss Gehalt haben. Oh Brainstorming, wie ich dich verachte! Du Monokel des Grauens, du infantile Saftpresse meiner Kreativität. Willst mich aussagen, mich durchkauen und dann auf den Boden spucken. Ich hasse dich, wirklich aufrichtig, weil du immer zur falschen Zeit auftauchst. Ich habe tagsübergenug Kopfkino, aber niemals dann, wenn ich es brauche.  
Dennoch probiere ich meine Motivation zurückzuholen, die normalerweise an einem schönen Tag wie diesen nackig über den Rasen springt, dabei einen Cocktail in der Hand hält und die Jeopardy-Musik summst. 

(Dumm, dumm, dumm, dumm, dumm, dumm, dumm)

Ich stehe vor einer Weggabel, mental gesehen. Zwei Möglichkeiten, entweder ordentlich ranklotzen und meinen Synapsensalat aufräumen. Oder… erstmal beim blauen Zeitfresser vorbeischauen…

Ich entscheide mich für zweitens
.
Ich öffne meinen Browser und gehe zu Facebook. Gleich werde ich mit wohltuenden Sinnlos-Content zugemüllt, der meine Gedanken an der Wurzel killen wird. Ich freue mich auf Cat-Content, Videos von Menschen, die sich gegenseitig verarschen und dem neuen Trend: Posts wie - Es begann alles als normaler Tag, aber was als nächstes passiert, wird dein Gehirn so dermaßen penetrieren. Mein Prokrastinationszentrum freut sich schon wie Bolle, also klicke ich beherzt auf den Anmeldebutton. 

Eine Sekunde später, höre ich den wohlbekannten Chat Sound. 

(Bubum bubum)

Es ist Mark, er möchte wissen, wie weit ich mit meinem Teil des Konzepts bin. Ich schreibe „Fahr doch zur Hölle, du Spast“ ins Chatprotokoll, will Enter klicken, entscheide mich aber in letzter Sekunde dagegen und schließe einfach das Fenster.

Mein Prokrastinationszentrum wird vom Schlechten-Gewissen-Zentrum in den Solarplexus geboxt und geht zu Boden. Mark hat gesehen, dass ich seine Nachricht gesehen habe. Danke, Marc Zuckerberg, für diese tolle Erfindung. Nun muss ich mich mit meinem Konzept beschäftigen. (Argh)

In dem Moment fliegt eine zweite Nachricht rein, diesmal von Judith, die auch in meiner Gruppe ist. Sie schreibt, dass Mark ihr gerade geschrieben hat, dass ich ihn, als Mark, ignoriere, und dass sie, also Judith, sich doch mal mit mir unterhalten soll, um mich aufzuklären, dass das so ja mal nicht geht.

Ich befürchte schlimmes, aber was als nächstes kommt, ist keine Aufforderung, mich endlich mal auf meinen Arsch zu setzen und das verdammte Konzept zu schreiben, sondern ein wertvolle Tipp:

„Hey, sieh das nicht so eng. Think outside the box, dann wird das schon.“ 

Think outside the box…
 
Gar nicht mal so eine schlechte Idee.

Ich schreibe Judith, sie sei ein Genie, schließe dann meine Browser und fahre den Computer herunter. Dann schnappe ich mir mein Stück Papier und verlasse das Haus.

Draußen scheint mir die Sonne wohlwollend ins Gesicht. Jep, das hat sich definitiv schon mal gelohnt. Vor mir öffnet sich ein Weg, der mit Steinen gepflastert ist und an einem kleinen hölzernen Tor endet. Dahinter verläuft ein Fußgängerweg, der links und rechts zu den anliegenden Straßen führt. Direkt vor mir ist: ein Busch. Grünes, wucherndes Gestrüpp ohne Sinn und Ziel. 

Nun stehe ich wieder vor zwei Möglichkeiten. Links oder rechts langgehen? Ich überlege kurz, denke dann an Judiths weise Worte (Think Outside The Box) entscheide mich also für die Dritte und gehe mitten durch den Busch.

Dabei merke, dass es sich gar nicht um einen stinknormalen Busch handelt, sondern um ein mit Dornen versehenes Exemplar. Es piekst und zwackt und kratzt, aber das ist mir egal. Noch nie in meinem Leben, bin ich einfach geradeaus durch diesen verflixten Busch gegangen. Also warum nicht jetzt damit anfangen. 

Nachdem ich mich  einen gefühlten Kilometer durch dornenbesetzte und mit Brennnesseln verfeinerte Sträucher geschlagen habe, öffnet sich das Gestrüpp endlich und gibt eine Lichtung preis. Wow.

Voll Erstaunen schaue ich aufs Paradies. Auf der großen, grünen Fläche tummelt sich allerlei Getier. Schmetterlinge und Bienen schwirren umher. In der Luft tanzen Pollen, so groß wie Schneeflocken. Am Himmel ist nur eine einzige Schönwetterwolke zu sehen.
Ich atme tief ein und notiere auf meinem Stück Papier: 

Neue Wege ausprobieren. Es lohnt sich.

Ich will weiter. Ich trete auf die Lichtung und gehe auf das andere Ende zu. Die Wiese steigt zu einem leichten Hügel an. Rechts und links von mir verschwinden nach und nach die Bäume, während es immer steiler wird. Wow, so krass habe ich die Steigung gar nicht wahrgenommen. So langsam muss ich mich mit meinen Händen abstützen, damit ich den Hügel erklimmen kann. Als ich mit letzter Kraft oben angekommen bin, trifft mich erstmal der Schock. 

Ich stehe auf der Spitze des Hügels, währen die Welt hinter mir wie von einem Sog abwärts gedrückt wird. Begeistert von der Aussicht, beginne ich auf mein Blatt zu schreiben:
Je steiler der Weg, desto besser die Aussicht.

Nun ist mir das aber noch nicht genug, Zwar ist der Horizont zum nah, aber zum Greifen nah ist er noch nicht. Ich gehe also einen Schritt nach vorne und noch einen, und noch einen, und noch einen und plötzlich stoße ich gegen einen Widerstand. Meine Nase wird von einer unsichtbaren Wand plattgedrückt. Etwas verdutzt stolpere ich rückwärts und starre irritiert ins Nichts. Was zum Teufel? Ich strecke meine Hände aus. Da ist eine Wand. Eindeutig. Ich kann sie nicht sehen, aber sie ist definitiv da. Ich fühle mich wie in einem schlechten Traum Eine unsichtbare Barriere versperrt mir den Weg. Ich beginne sie mit meinen Händen abzutasten. Nope, das ist 1A Handwerkskunst, da ist kein Durchkommen.  Ich falle auf die Knie, eine bedrückende Frage macht sich breit: Bin ich gefangen und habe es die ganze Zeit nicht gemerkt? Ich greife zu Stift und Papier und schreibe auf:
Am Ende des Weges wartet eine Wand.

Ich stehe wieder auf. Das kann nicht das Ende meines Weges sein. Verzweifelt schlage ich gegen die Wand, versuche irgendwie hindurchzukommen, aber es geht nicht. Ich nehme vor Wut einen Stein und schmeiße ihn dagegen, er fliegt postwendend zurück und trifft mich an der Schläfe. Autsch. Das hat wehgetan. Ich muss mich anlehnen, als ich plötzlich eine Fuge bemerke. War die vorher etwa auch schon da? Komisch, in dieser unsichtbaren Wand scheinen sich rundliche Fugen zu befinden, in die locker eine Hand oder ein Fuß passen würde. 

Think Outside The Box schallt es durch mein Gehirn.

Die Fuge befindet sich auf Bauchhöhe, das hieße also, wenn ich theoretisch…

Ich nehme meinen Fuß, stecke ihn in die Einbuchtung und springe ein Stück nach oben. Meine Hände gleiten hilflos über die Wand, ich drohe herunterzufallen, als ich unverhofft eine weitere Fuge ertaste und mich daran festkralle. Wow, da macht sich das jahrelange Bouldern doch bezahlt, schießt es mir durch den Kopf, aber ich verwerfe den Gedanken schnell wieder, denn meine Vermutung geht noch weiter. Wo zwei Fugen sind, das sind noch mehr. Etwas unentschlossen hänge ich in der Luft. 

Ich starre in den Himmel. Keine Ahnung wie hoch die unsichtbare Wand noch geht, egal, ich werde es herausfinden. 

Bis hierher und noch viel weiter. Ich setze zum nächsten Sprung an. Der Aufstieg beginnt. Je höher ich klettere, desto stärker schlägt mir der Wind ins Gesicht. Vögel ziehen an mir vorbei und drehen verwundert den Kopf zu mir um. Den Tieren scheint die Mauer nichts auszumachen. Unter mir kratzt sich gerade ein Hase an den Löffeln und fragt sich, was dieser Mensch da mutterseelenallein in der Luft zu suchen hat. 

Als ich mittlerweile in über hundert Metern luftiger Höhe hänge, kommt mir zum ersten Mal der Gedanke des Fallens. Was passiert eigentlich, wenn ich hinunterfalle? Ich schaue nach unten. Es geht brutal herab.

Das Angstzentrum in meinem Gehirn springt an und pumpt Adrenalin in meine Adern. Meine Hände in den Fugen verkrampfen sich und beginnen zu zittern, sodass ich drohe, den Halt zu verlieren. 

Das kann nicht das Ende sein. Ich schließe die Augen und zähle langsam bis zehn. Diese Wand muss irgendwann aufhören. Einen letzten Satz muss ich wagen. Den größten und weitesten, den ich je machen musste. Mit purer Willenskraft zwinge ich meine Muskeln, mir zu gehorchen. Dann ist der Moment gekommen. Alles oder nichts. Ich springe, fliege, schwebe in der Luft, suche nach Halt, erfasse plötzlich eine Kante und schwing mich beherzt hinauf. 

Ich kann es nicht fassen. Es ist vollbracht. Ich bin auf dem Rand der Box. Vor mir liegt die Welt, wie in einer Tupperdose gefangen. Eine erfrischende Brise streicht durch mein Gesicht. Überglücklich zücke ich mein Stück Papier und schreibe folgenden Satz:

Die Box existiert wirklich. Aber man kann sie überwinden.

Als ich fertig mit schreiben bin, drehe ich mich um und schaue in das unbekannte, weiße Nichts. Wie unverbraucht hier alles erscheint. Hätte ich meinen Laptop zur Hand, würde ich Judith jetzt eine Facebook-Nachricht schreiben und ihr sagen: „Du hattest Recht“. Ich mache einen Schritt nach vorne und denke zum ersten Mal in meinem Leben außerhalb der Box.

Freitag, 23. Mai 2014

Glaubt an mich!

Wir schreiben das Jahr 2507 und die Welt ist erklärt. Vollständig. So jedenfalls lautet die offizielle Meinung der Wissenschaft und so denken fast alle Menschen auf der Erde. Alle Rätsel sind gelöst, alle Unsicherheiten beseitigt, alles Vage, jede Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit wurde ersetzt durch Gewissheit, harte Fakten, Zahlen, auf die alle Existenz reduziert werden kann. Angst und Hoffnung verbrüdern sich im Angesicht ihrer Vernichtung um dann gemeinsam unterzugehen, aus der Welt getilgt durch das unzweifelhafte Wissen, das nun ihren Platz einnimmt. Dabei weiß nicht einmal jeder. Nicht jeder einzelne Mensch ist mit den komplizierten Berechnungen vertraut, die nötig sind, um die Welt als Ganzes logisch erscheinen zu lassen, nur eine kleine Elite versteht die Zusammenhänge wirklich. Das Gefühl der Resignation angesichts der Berechenbarkeit jedes Vorgangs im Universum, die eine Vorstellung von so etwas wie „freiem Willen“ absurd erscheinen lässt, ist jedoch auch bei denen, die nicht wirklich wissen, allgegenwärtig. Ihnen genügt es, zu wissen, dass andere wissen. Die Welt ist erklärt, egal ob ich selbst sie verstehe. Ich weiß zwar nicht, warum was wie passiert, aber jemand anderes weiß es ganz genau. Ich komme mir vor, wie ein Wesen mit freiem Willen, aber dieser Jemand könnte jede einzelne meiner Aktionen genau voraussagen, weil ich in den aktuellen Umständen gar keine andere Möglichkeit habe, als mich so zu entscheiden. Gefangen sowohl in der Welt als auch in mir selbst, so versteht sich der Großteil der Menschheit. Jede Spontaneität ist verschwunden, und damit jede Lebensfreude. Ein erklärter Mensch ist kein guter Mensch. Jedenfalls nicht gut für sich selbst.

In einer Kleinstadt in Mitteldeutschland sitzt auf einer Parkbank die einzige Ausnahme. Martin will diese Welt nicht akzeptieren. Er weigert sich, die Errechenbarkeit des Menschen anzuerkennen, will nicht glauben, dass sich die Bedeutung eines Menschen in einer mathematischen Formel erschöpft. Martin will mehr sein, mehr in anderen sehen. Er glaubt an etwas Unerklärliches. Irgendwo, da ist er sich sicher, gibt es etwas, das nicht berechnet werden kann, etwas, dass sich den Formeln der Mathematiker entzieht. Martin glaubt nicht an einen Gott. Dafür denkt er sehr viel über ihn nach. Darüber, ob Gott nicht einfach nur ein Wort ist, für etwas Unerklärliches. Nicht für etwas Bestimmtes, sondern für das Unerklärliche an sich. Für das, was er sucht?

Martin geht gerne spazieren. Er fühlt sich nicht wohl mit seinen Mitmenschen, spürt, dass ihre Kapitulation vor der behaupteten Logik ihrer Leben ihm die Freude nimmt. Daher sucht er sich Orte, an denen er allein sein kann und beneidet die Tiere, die er in der Natur beobachtet, weil sie keine Gedanken an die Erklärbarkeit ihrer Leben verschwenden.
Eines Tages hat Martin einen seiner Spaziergänge besonders weit ausgedehnt. Er ist erst auf kleinen Pfaden immer weiter in den Wald hinein gegangen, hat dann aber begonnen, einfach quer durchs Unterholz zu laufen. Schließlich, es wird bereits dunkel und Martin hat mit Hilfe seines Kompasses die Richtung des Städtchens eingeschlagen, kommt er an einen Hügel, auf dessen Kuppe er eine Lichtung erspäht. Ein Feuer scheint dort zu brennen und Martin, halb neugierig auf denjenigen, der dort oben tatsächlich etwas so unlogischem wie einer Freizeitbeschäftigung nachzugehen scheint und halb angezogen von dem zu erwartenden großartigen Blick auf seine erleuchtete Heimatstadt, macht sich an den Aufstieg.

Zehn Minuten später biegt Martin die letzten Büsche beiseite, die ihn noch von der Lichtung auf der Hügelkuppe trennen. Neugierig lugt er zwischen den Zweigen hervor.
Auf der Lichtung sitzt ein Mann mittleren Alters und starrt in die Flammen. Er hat einen Stoppelbart, trägt eine Brille und das kurze Haar hat sich bereits von weiten Teilen seines Kopfes zurückgezogen. Er sieht nachdenklich aus, wie er da so sitzt. Nachdenklich und unheimlich traurig. Spontan empfindet Martin Mitleid mit ihm, ist aber gleichzeitig verwirrt. Etwas stimmt nicht mit diesem Mann. Es ist nichts sichtbares, soviel ist klar. Eher ein Gefühl... Martin kann es sich nicht erklären, und das fasziniert ihn. Dieser Mann scheint ihm nicht so stumpfsinnig und berechenbar, wie der Rest der Menschen. Was ist anders an ihm?
Schließlich hält Martin es nicht mehr aus. Er tritt aus seinem Versteck und ist mit wenigen Schritten am Feuer. Der Lagernde starrt weiterhin in die Flammen. Martin räuspert sich. Keine Reaktion. Auch das zweite, etwas lautere Räuspern bringt nicht den gewünschten Effekt. Schließlich versucht Martin es mit einem schüchternen Gruß.
„Ääh... hallo...“
Endlich hebt der andere seinen Blick, etwas überrascht aber nicht etwa erschrocken, und schaut Martin in die Augen.
„Oh, guten Abend. Verzeih, ich war in Gedanken versunken. Bist du schon lange hier?“
„Ich... nein, das nicht, ich wollte nur... was ist los?
Der Mann am Feuer hat plötzlich die Augen zusammengekniffen und mustert Martin nun misstrauisch. Bei dem plötzlichen Ausruf des Neuankömmlings setzt er allerdings sofort wieder seine alte, freundliche aber traurige Miene auf.
„Nichts nichts. Ich... hatte dich nur verwechselt. Ein kleiner Streich, den mir der Widerschein der Flammen auf deinem Gesicht gespielt hat. Setz dich doch.“
Martin wirft dem Fremden noch einen argwöhnischen Blick zu, leistet seiner Aufforderung jedoch Folge.
„Nun,“ lässt sich erneut der Mann am Feuer vernehmen, „was führt dich hierher? Woher kommst du überhaupt? Ich glaube, ich habe dich tatsächlich noch nie gesehen. Zumindest nicht, soweit ich zurückdenken kann, und das sind ja immerhin ein paar tausend Jahre.“
„Ein paar... Was?!?
„Nun komm schon. Tu nicht so, als wärst du überrascht. Ich bin nicht unbedingt der älteste Gott.“
Martin erstarrt.
Du bist... du behauptest, dass du Gott bist?“
„Ich bin nicht 'Gott'. Ich bin nur ein Gott, und... Aah!“ Die Augen des Mannes glänzen. „Du bist also keiner! Ich wusste doch gleich, dass irgendetwas an dir komisch ist.“
„An mir ist etwas komisch? Da wo ich herkomme ist es nicht im geringsten komisch, keinGott zu sein. Bei uns gibt es keine Götter. Die Leute glauben auch längst nicht mehr daran. Ich bin der einzige...“
Martin verstummt.
„Der einzige...?“ forscht der Gott nach. Martin seufzt.
„Der einzige, der noch an so etwas wie einen Gott glaubt. Zumindest so ähnlich. Ich weiß nicht genau... Ist schwierig zu erklären.“
Das behauptete höhere Wesen ihm gegenüber bekommt ganz große Augen.
„An einen Gott glauben? Aber... an Götter glaubt man doch nicht. Wie meinst du das? So eine Art... Religion?“
Jetzt ist Martin vollkommen durcheinander. Hier sitzt ihm jemand gegenüber, der behauptet, ein Gott zu sein, aber nicht die geringste Ahnung zu haben scheint, was ein Gott überhaupt ist.
„Natürlich betet man Götter an. Schon immer. Das heißt, heute nicht mehr so sehr, aber früher... Das Wort 'Gott' steht jedenfalls immer noch für eine höhere Daseinsform, der man huldigt und... ach, ich weiß auch nicht, ich habe nur in alten Büchern davon gelesen, heute kennt sich da ja kaum noch einer aus, aber soviel wissen sie doch alle: Götter betet man an. Woher kommst du, dass du das nicht weißt?“
Der andere schüttelt den Kopf, birgt sein Gesicht einen Moment lang in den Händen und wendet sich dann wieder an Martin.
„Wenn du Götter für höhere Wesen hältst, kannst du mit dem Namen des Ortes, von dem ich komme, sicher nichts anfangen. Dort leben nur Götter. Alle, die du triffst, sind Götter und niemand würde auf die Idee kommen, sie anzubeten. Wir beten zu einem anderen Wesen.“ Er seufzt. „Zumindest war es einmal so. Aber inzwischen... sind die meisten vom Glauben abgefallen. Früher haben sie noch alle in Ehrfurcht zu ihm aufgeblickt, Odin und Zeus, JHWH und Durga, alle Götter haben sich regelmäßig an ihn gewandt und ihn um die verschiedensten Dinge gebeten. Manche behaupten sogar, sie hätten mit ihm gesprochen, aber ihre Beschreibungen widersprechen sich... vielleicht tritt er ja auch in verschiedenen Gestalten auf. In der Zwischenzeit jedenfalls haben sie sich alle von ihm abgekehrt. Er sei nicht logisch, sagen sie. Seitdem leben sie ihr streng durchdachtes Leben, das mir so freudlos vorkommt... Ich fürchte, ich bin der Einzige, der noch an ihn glaubt. Da hätten wir also etwas gemeinsam.“
„Ich dachte gleich, dass du wegen irgendetwas traurig bist... Als ich dich hier am Feuer sah...“ Martin sieht den Gott mitleidig an. „Ich habe auch auf den ersten Blick gesehen, dass du irgendwie anders bist als wir. Aber dass du nun ein... wie auch immer, erzähl mir mehr von eurem Glauben! Wie nennt ihr euren Go... ich meine, das höhere Wesen, an das ihr glaubt?“
Der Gott lächelt versonnen vor sich hin. Auch mit diesem Gesichtsausdruck wirkt er nicht wirklich glücklich, sondern vielmehr wie von einer tiefen Melancholie ergriffen.
„Wenn du uns Götter schon für höhere Wesen hältst, muss dir der, an den ich glaube, gewaltiger vorkommen, als du jemals zu träumen gewagt hättest. Ein Wesen, dass Mauern und Paläste baut in einem Nichts an Zeit. Das ganze Flüsse umleitet, Berge versetzt und Völker vergehen lässt, wenn es ihm beliebt. Man sagt, es habe die Götter einst geschaffen, jeden Einzelnen von ihnen, genau wie ihre Ländereien, das Paradies, Wallhalla und wo sie alle wohnen. Na? Das ist wohl etwas mehr, als das, was du von uns Göttern gewohnt bist...“
„Eigentlich nicht“ meint Martin. „Das klingt ungefähr genauso wie das, was in den alten Büchern über euch geschrieben steht. Aber jetzt sag doch endlich. Wie heißt der, zu dem du betest?“
Da beugt sich der Gott mit geheimnisvollem Gesichtsausdruck zu Martin und flüstert ihm ins Ohr: „Unser Herr, der Schöpfer und Beherrscher trägt den Namen – der Mensch.“
„WAS?!?“
„Was ist los? Hast du schon von ihm gehört?“
„Ja. Ich meine, nein. Ach quatsch, ich bin doch ein Mensch.“
„Du... du bist...“
Auf einmal bekommt das Wesen am Feuer ganz glänzende Augen.
„Du bist... der Mensch? Ich bin dem wahrhaftigen Menschen begegnet?“
Ein zwischen Andacht und Unglaube changierender Ausdruck macht sich auf seinem Gesicht breit. Er macht den Eindruck, als wolle er sich gleich vor Martin zu Boden werfen.
„Hör auf, mich so anzustarren. Ich bin nicht der Mensch. Nur einer. Einer von vielen Milliarden Menschen.“
„Es gibt mehr als einen Menschen?“
Der andere ist sichtlich schockiert.
„Natürlich gibt es mehr als einen von uns. Und die ganzen Dinge, die du über uns gesagt hast stimmen auch nicht. Von wegen Schöpfer eurer Welt und Vernichter ganzer Völker.“
Martin stutzt kurz und überlegt einen Moment.
„Naja, jedenfalls stimmt es nicht so, wie sich das bei dir anhört. Ein Mensch allein ist gar nichts. Er könnte keines dieser Wunder vollbringen, die du da aufgezählt hast. Dafür braucht es schon einen...“
Martin unterbricht sich erneut und sieht zu Boden. Aber sein Gegenüber hat ihn auch so verstanden.
„Einen Gott?“ vollendet er Martins Satz. „Wolltest du das sagen? Aber wir können diese Dinge ebenso wenig wie ihr. Warum sonst hätten wir einen Grund gehabt, euch dafür zu bewundern?“
„Und welchen Grund hätten wir dafür gehabt euch zu bewundern, wenn wir das alles gekonnt hätten?“
Der Gott schweigt.
Martin schweigt.
Schließlich ergreift der Gott das Wort.
„Und was jetzt? Hier sitzen wir nun, wir beiden letzten Gläubigen, kurz nach der Erkenntnis, dass sich unsere Völker seit Hunderttausenden von Jahren missverstanden und auf diesem Missverständnis ihr Leben aufgebaut haben. Was tut man, wenn man so etwas herausgefunden hat?“
Martin antwortet nicht. Schweigend sehen beide ins Feuer, Minute um Minute, bis es schließlich heruntergebrannt ist und nur noch einige Kohlen glimmen.
Plötzlich steht Martin auf. Sein neuer Bekannter hebt überrascht den Blick.
„Wo willst du hin?“
„Komm mit!“
Verständnislos mustert der Sitzende Gott den stehenden Menschen, der ihm eine Hand entgegenstreckt.
„Was soll das? Wohin willst du mit mir gehen?“
Martin lässt die Hand sinken und atmet tief durch. Dann beginnt er zu erklären.
„Ich bin mit den Menschen, mit dem Leben unter ihnen unzufrieden. Schon lange habe ich das Gefühl, da müsse doch mehr sein. Mehr zu entdecken, zu erleben. Auch du bist enttäuscht von deinem Volk. Du magst das Leben mit ihnen nicht mehr, fühlst dich ausgestoßen. Merkst du es nicht? Wir beide sitzen im selben Boot. Wir haben das gleiche Problem. Aber wir haben auch die Möglichkeit, es zu lösen.“
Der Gott horcht auf.
„Wie stellst du dir das vor? Die Götter lassen sich nicht von der Existenz des Menschen überzeugen. Jetzt, wo ich weiß, dass ihr gar kein übernatürliches Wesen seid, hat es ja auch keinen Sinn mehr.“
„Es geht ja auch gar nicht darum, irgendjemanden umzustimmen. Es geht darum, wie wir außerhalb der uns unangenehm gewordenen Gesellschaften leben können. Jetzt, da wir im jeweils anderen einen Gleichgesinnten gefunden haben, können wir das.“
Erneut reicht Martin dem Wesen am Boden die Hand.
„Lass uns gemeinsam losziehen und aus dem Leben machen, was daraus wird. Es wird auf jeden Fall besser sein als unser Dasein als ewige Außenseiter, allein in der Masse. Du könntest mir die Heimat der Götter zeigen und ich kann dich durch die Länder der Menschen führen. Wir sind zwei, die sich das Leben mit all seinen Geheimnissen nicht abnehmen lassen. Warum nicht gemeinsam unsere verbleibende Zeit lebenswerter machen, als sie es bisher ist?“
Die dargebotene Rechte.
Ein langer, abschätzender Blick.
Ein Handschlag.


Eine halbe Stunde später können späte Spaziergänger ein seltsames Pärchen einen Weg in der Nähe der Stadt entlangwandern sehen. Zwei Männer, so scheint es, die in ein fesselndes Gespräch vertieft sind. Auf den ersten Blick. Doch wer genauer hinschaut wird den Unterschied bemerken. Einen Unterschied so fein, dass er nicht genau zu bestimmen ist, aber doch so frappierend, dass keiner umhinkann, den beiden nachschauend verwirrt den Kopf zu schütteln, auch wenn auf Nachfrage keiner von ihnen sagen könnte, worüber eigentlich.

Mittwoch, 7. Mai 2014

Entzug

Der Drang wird immer stärker. Lange halte ich es nicht mehr aus. Ich sitze in der Vorlesung und versuche, das Bedürfnis zu unterdrücken. Sehe auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Nicht lang genug, um ein plötzliches Verschwinden entschuldbar zu machen, ganz abgesehen davon, dass der Dozent auf derlei Unterbrechungen überaus allergisch reagiert. Nicht lang genug, aber im Moment kommt diese Zeit einer halben Ewigkeit gleich. Also einer ganzen. Die Hälfte der Ewigkeit ist ewig. Ich sehe nochmals auf die Uhr. Zwanzig Sekunden sind vergangen. Ich verziehe das Gesicht. Ich brauche es jetzt gleich, auf der Stelle, aber 580 lange Sekunden trennen mich noch von der Erlösung. Wenn ich doch jetzt nur allein wäre... Oder wenigstens niemand mitbekommen hätte, das ich direkt vor der Vorlesung schon...
Eigentlich machen es ja alle hin und wieder, aber ich, ich bin krank. Wirklich, ich weiß, dass es eine Krankheit ist, und diese Krankheit lässt eben jetzt den inneren Druck immer stärker werden, viel öfter als jeder andere verspüre ich in letzter Zeit das Verlangen, kann nichts dagegen tun, will es aber auch niemandem verraten. Was sollen sie von mir denken? Wird es Häme geben? Ekel? Mitleid? Doch ich will keine dieser drei Reaktionen.
Der Dozent erzählt etwas von Injektionen. Ich verstehe nicht mehr als dieses eine Wort: Injektion. Das einspritzen einer Flüssigkeit... Warum muss er jetzt davon reden? Habe ich es nicht schwer genug?
Ich sehe wieder auf die Uhr. Immerhin, zwei Minuten sind seid dem letzten Mal vergangen. Das heißt, es sind noch...
Ich beginne, die Sekunden zu zählen. Viele sind es, viel zu viele. Außer dieser Erkenntnis kommt bei meinem Zählversuch nicht viel heraus.
Ich riskiere einen weiteren Blick auf die Uhr. Weitere anderthalb Minuten sind um. Macht eine noch zu durchkämpfende Zeit von sechs Minuten. Natürlich nur, wenn der Dozent nicht überzieht. Das wird er doch nicht ausgerechnet heute...? Ich schaue auf die Leinwand. Nirgendwo ein Hinweis darauf, wie viele Folien noch fehlen, bis seine Präsentation endlich ein Ende findet. Wie lange wird er noch reden? Ein Blick auf den Dozenten verschafft mir keine Klarheit.
Ich sehe wieder auf die Uhr. Die Hälfte ist geschafft. Die Hälfte... Die alte Frage nach halb voll oder halb leer fällt mir wieder ein... Wie soll ich diese Tortur noch einmal so lange aushalten? Das Drängen in meinem Inneren hat sich zu einem Rasen verwandelt, einem Sturm, der alles mitreißt. Die kleine Hütte, in der sich meine Selbstbeherrschung versteckt, zittert schon gewaltig. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Dach und Wände sich dem Wind überantworten und sie, die Selbstbeherrschung, so rückstandslos in alle Himmelsrichtungen verweht wird, dass hinterher nicht einmal der Gedanke aufkommen könnte, es habe sie einmal gegeben. Meine Fingernägel hinterlassen bereits lange Kratzer auf den ihnen schutzlos ausgelieferten Unterarmen. Ich brauche es jetzt! Keine Wartezeit mehr, bitte!
Ein weiterer Blick auf die Uhr bestätigt mir, dass mein Zeitgefühl mich vollständig verlassen hat. Etwas unter vier Minuten sind es noch. Ich hätte schwören können, dass wir schon eine halbe Stunde über die Zeit sind.
Wenn ich doch nur jetzt gleich, ganz heimlich, genau hier an Ort und Stelle... Aber das geht nun wirklich nicht. Wenn mich jemand sähe! Irgendwie würden sie es mitbekommen, so viel ist sicher. Ich beginne, über Wege nachzudenken, unbemerkt zur Erlösung zu kommen. Wenn ich nun den Behälter und das sonstige Equipment einfach im Rucksack lassen würde, so tun, als hätte ich unterm Tisch darin zu kramen, dann nach vollbrachter Tat wieder auftauche, als sei nichts gewesen... Nein, das ging nicht. Viel zu riskant! Ich musste weiter warten, warten, warten...
„Der lässt sich heute aber ganz schön Zeit“ flüstert mir mein Sitznachbar zu.
„Ja...“, stöhne ich zwischen zusammengebissenen Zähnen zurück, „kaum auszuhalten.“
„Sag mal, stimmt was nicht mit dir?“ Der andere mustert mich besorgt. Kurz flimmert vor meinen Augen vorbei, was er gerade sehen muss. Ein bleicher junger Mann, Schweißperlen auf der Stirn, die Hände verkrampft und die Kiefer fest zusammengebissen, leichter Silberblick.
„Alles bestens“, stoße ich kurzatmig hervor, „nur ein bisschen... unterzuckert. Geht gleich wieder.“ Zum Beweis schenke ich ihm ein wahrlich furchterregend ermutigendes Lächeln, eher ein Blecken der zusammengebissenen Zähne, und warte, bis er sich kopfschüttelnd wieder seinen Aufzeichnungen zuwendet.
Wieviel Zeit mag unser Gespräch wohl gekostet haben? Ich überprüfe wieder die Uhr, und stelle fest, dass sie kurz nach dem letzten Mal, dass ich nachgeschaut habe, stehen geblieben ist. Ich könnte schreien! Keine Sekunde länger halte ich es aus! Das etwas in mir, das ich nur mühsam zurückhalte, dieses Geschöpf der Tiefe, das mich nun schon so lange plagt und mir befiehlt, es doch endlich zu tun, es lässt sich nicht mehr bändigen, es will heraus! Ich schnappe mir meine Tasche und bin gerade im Begriff, aufzuspringen, als plötzlich lautes Klopfen studentischer Knöchel auf Pressspan ertönt. Na endlich! Ich drängele mich so schnell ich kann durch die Reihe, renne die Stufen bis zur Tür hinauf und sprinte den Gang entlang. An der Tür mit dem kleinen Männchen stoße ich mit einem Studenten einer anderen Fachrichtung zusammen, der mir irgendetwas nachruft, aber das ist mir egal. Ich betrete eine Kabine, finde kaum die Zeit, den Riegel vorzuschieben, endlich, endlich allein. Die Qual hat ein Ende! Die Erfüllung all meiner Wünsche, sie steht kurz bevor. Nein, es löst keine Probleme, aber werden Probleme und ihre Lösungen im Angesicht dieser grenzenlosen Wonnen nicht zweitrangig? Relevante Körperpartien sind im Nullkommanichts freigelegt und endlich fließt der Lebenssaft, macht sich unendliche Befreiung breit. Was für ein Rausch, was für eine Ekstase, aber gleichzeitig: Wie entspannend und rundum befriedigend. Nie war die Welt ein besserer Ort.


Fünf Minuten später verlasse ich die Kabine, beschwingt und mit Lust, ein kleines Lied zu pfeifen. Die Erleichterung ist fast vollkommen, nur leicht von dem Wissen getrübt, dass ich in spätestens einer Stunde wieder das gleiche Bedürfnis haben werde. Ich seufze. Wieviel einfacher wird das Leben sein, wenn ich wieder gesund und dazu in der Lage bin, eine ganze Vorlesung durchzuhalten, ohne zwischendurch Wasser lassen zu müssen.