Wenn
euch in eurer Kindheit jemand gefragt hätte, ob ihr mal einen
richtigen Helden kennen lernen wollt, was hättet ihr wohl
geantwortet? Nicht wenige von euch, so vermute ich, hätte ohne
Bedenken zugestimmt. Ein echter Held? Na klar. Wie oft kriegt man
schon einen zu sehen? Leider ist ein solches Treffen aber nicht
möglich. Warum? Gegenfrage: wann wird denn heute noch jemand „Held“
genannt? Meist in dem Moment, in dem sein Sarg mit der Flagge seines
Heimatlandes darüber aus dem Flugzeug befördert wird, zusammen mit
denen all der anderen Heldenmütigen, die nichts besseres mit ihrem
Leben anzufangen wussten, als es politischen Verwerfungen zu opfern,
die sie nicht verstanden. Helden trifft man nicht, weil sie
gewöhnlich tot sind.
Anders
ist es mit den Superhelden. Superhelden kehren aus ihren Gefechten
immer zurück. Sie haben zwischendurch Tiefschläge, aber mithilfe
ihrer Superkräfte und gelegentlich auch einmal mit Unterstützung
einer anderen übermächtigen Kraft wie der „Kraft der
Liebe/Freundschaft/Hoffnung/ [beliebige pathetische Bezeichnung
einsetzen]“ schaffen sie es doch immer, aus ihren Kämpfen
siegreich und gestärkt hervorzugehen, während sich hinter ihnen
eine Schneise der Verwüstung durch die Landschaft zieht.
Beim
letzten großen Krieg haben die Superhelden dieser Welt jedoch
eindeutig übertrieben. Moment. Superhelden in unseren Kriegen? Wo
gibt es denn sowas? Wie könnte es zu einer solchen Situation
gekommen sein? Nun denn, Superhelden sind ihrer Natur gemäß mit
gewissen Gaben ausgestattet. Die, selbstständig zu denken, gehört
jedoch selten dazu. Zwar schwirren nicht wenige von ihnen tagein
tagaus durch die Luft, springen von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer,
führen die futuristischsten Über-Waffen, die man sich nur
vorstellen kann oder haben einfach Oberarme wie eine
Arnold-Schwarzenegger-Karrikatur, aber letztlich bleiben sie dann
doch nichts weiter als eine Bande physisch krass übervorteilter
Dumpfbacken, die dem zur Hilfe eilen, der zuerst laut schreit.
Nun
bahnte sich also ein Krieg an, und verschiedenen Regierungschefs ging
auf, dass man sich die Vorteile dieser Kämpfer sichern könnte. Man
musste nur als erstes schreien. Also rief jedes Land die anwesenden
Superhelden zusammen und erzählte ihnen schreckliche Dinge über die
Absichten der Gegner, das eigene Volk zu unterjochen und die Freiheit
und Selbstbestimmung der Menschen mit Füßen zu treten. „Freiheit“,
so viel muss dazu gesagt werden, ist ein Wort, dass jedem Superhelden
tief unter die Haut geht. Die Freiheit zu verteidigen, das ist ihre
Aufgabe und so stellten sie sich ausnahmslos in den Dienst der
verschiedenen Staaten. Das Bild, das sich nun bot, hätte unfairer
nicht sein können: Die USA mit einem Heer von Superhelden, Japan
zumindest mit etwas, was sich guten Gewissens ein „Schar“ oder
„Gruppe“ nennen ließ. Alle anderen waren froh, wenn sie mit
einem oder zwei übermächtigen Halbstarken aufwarten konnten. Der
Ausgang des Kriegs schien festzustehen, bevor er überhaupt
angefangen hatte, doch die Menschen hatten die Rechnung ohne oben
beschriebene Eigenschaft von Superhelden gemacht. Denn Superheld war
jeder von ihnen, egal, ob er eine runde Tausendschaft seinesgleichen
hinter sich wusste, oder sie mit grimmigen Gesichtern auf sich
zukommen sah. Und jeder Superheld kehrt aus seinen Gefechten
zurück! Während also die
Normalsterblichen sich einer nach dem anderen durch ihr gewaltsam
erzwungenes Ableben ins Buch der Standard-Helden einschrieben, ging
der Kampf der Superhelden einfach immer weiter. Natürlich legten
sie, wie es halt ihre Art war, im Laufe des Kampfes die gesamte
Umgebung in Schutt und Asche und da ihre Schlachten nie endeten, war
irgendwann der gesamte Planet verwüstet. Kein Stein stand mehr auf
dem anderen und als sich die mächtigen Beschützer der Menschen und
ihrer Freiheit umsahen, stellten sie fest, dass da gar keine Menschen
mehr waren, die man hätte beschützen können. Als sie mit ihren
Gedanken so weit gekommen waren, der Krieg war seit etwa einer Woche
mangels sterbefähiger Gegner eingestellt, setzten sich die
Superhelden schließlich alle zusammen und hielten Rat.
Vor
allem ein Problem stellte sich ihnen. So groß ihre Kräfte auch
waren und so erfolgreich sie bis jetzt die Auswirkungen einer jeden
Energiebilanz ignoriert hatten, ganz ohne Essen kam keiner von ihnen
aus. Nach mehr als einer Woche ohne die ihnen von ihren jeweiligen
Arbeitgebern zur Verfügung gestellten Rationen gab es kaum einen
Magen mehr, der nicht mit lautstarken Unmutsbekundungen auf sich
aufmerksam machte. Doch woher sollten sie etwas zu essen nehmen?
Bisher hatte ihre Aufgabe darin bestanden, den Bösewichtern dieser
Welt gepflegt aufs Maul zu geben. Natürlich war der eine oder andere
von ihnen noch einer Nebenbeschäftigung nachgegangen, aber wie auf
einer von jeder Zivilisation befreiten Welt an Nahrung zu kommen war,
das wusste keiner von ihnen. Für Nahrung waren immer andere
verantwortlich gewesen.
Doch das war nicht das einzige, womit sich die Superhelden dringend
auseinandersetzen mussten. Die Nächte, so hatten sie gemerkt, wurden
mitunter empfindlich kalt. Jeder von ihnen, der sich nicht im
heldenhaften Kampf gegen eine miese Erkältung verlieren wollte,
musste sich Gedanken darüber machen, wie er zu einem Dach über dem
Kopf kam. Sie alle waren äußerst erfahren darin, Dinge
kaputtzuschlagen, aber wenn es ums Aufbauen ging, fehlte ihnen
schlicht die Erfahrung.
Nun saßen sie also alle in einem großen Bombenkrater mitten in
einem noch größeren Waldstück am Hang eines noch größeren Berges
versammelt und überlegten angestrengt, wie diese Probleme zu lösen
seien. Das Grummeln der vielen hungrigen Mägen wurde lauter und
lauter, was der Konzentrationsfähigkeit nicht eben zuträglich war,
da ließ sich auf einmal ein überraschter Ausruf vernehmen.
„Da ist ja doch noch einer!“
Alle wandten sich um, erleichtert, die geistige Anstrengung für ein
paar Augenblicke aussetzen zu können.
Am Rande des Kraters war soeben ein Mann erschienen. Ein älterer
Herr mit langem, grauen Bart, mit Lumpen bekleidet und barfuß, der
die vor ihm versammelte Menge grimmig musterte.
„Was tut ihr hier?“ rief er. „Was habt ihr hier zu suchen?“
„Wir haben hunger und überlegen, wie wir zu etwas zu essen kommen
sollen.“
„Geht das vielleicht auch ein bisschen leiser?“ ließ sich wieder
der alte Mann vernehmen. „Bei dem lauten Magenknurren kann ich mich
nicht konzentrieren. Ich bin nicht Einsiedler geworden und in eine
der einsamsten Gegenden der Erde gezogen, um mich dann hier von
Armeen von Hungrigen aus meinen Gedanken reißen zu lassen.“
Der Alte drehte sich um und machte Anstalten, wieder im Wald zu
verschwinden.
„Halt, warte,“ riefen die Superhelden, „kannst du uns nicht
etwas zu essen verschaffen, und ein Dach über dem Kopf?“
Der Mann lachte.
„Euch allen? Wo soll ich denn diese Mengen hernehmen? Und in meine
kleine Hütte passt ihr unter Garantie nicht. Vergesst es! Jagt euch
gefälligst selbst etwas oder baut etwas an.“
„Das
würden wir ja gerne, aber wie geht das?“
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann meldete sich Thor zu
Wort, der aus seinen Zeiten als Gott immer noch gewohnt war,
Verantwortung für viele zu übernehmen.
„Hört
zu, ich habe etwas zu sagen. Wir alle sind mit besonderen Gaben
ausgestattet, die uns lange Zeit über mächtiger gemacht haben, als
den durchschnittlichen Menschen. Diese Zeiten sind vorbei. Da außer
uns und diesem alten Mann dort keiner mehr übrig ist, hat
der durchschnittliche Mensch nun Superkräfte. Sie sind normal,
nichts mehr besonderes und verdienen daher auch den Namen
'Superkräfte' nicht mehr.“
Die Menge starrte stumm vor sich hin, viele nickten in resignierter
Zustimmung mit dem Kopf. Thor jedoch sprach weiter.
„Ihr Helden, die ihr keine mehr seid. Es gibt trotz alledem eine
Fähigkeit, die nur einer auf dieser Erde hat, die für unser
Überleben jedoch unerlässlich ist. Eine Fähigkeit, die diesen
Einen zum einzigen verbliebenen Superhelden dieses Planetens macht.
Es ist die Fähigkeit, zu überleben, und für unser Überleben zu
sorgen und dieser Mann dort ist der einzige, der sie besitzt. Ich
schlage daher vor, dass wir ihn zu unserem Anführer wählen. Er wird
uns zeigen, wie man zu Nahrung kommt, wie man sich eine Unterkunft
baut und wie man jeden anderen Bereich des Lebens meistert, der uns
bisher von anderen abgenommen wurde.“
Er drehte sich zu dem Einsiedler.
„Zeige uns, was wir können müssen, um zu überleben. Wir werden
dir folgen, die Arbeit für dich tun und dich in jedem Bereich des
Lebens als unseren Anführer akzeptieren.“
Einen Moment herrschte Stille.
Dann brach tosender Applaus unter den Superhelden los. Man scharte
sich um den neuen Anführer, ließ ihn hochleben und lobte seine
Weisheit und seine überlegenen Fähigkeiten.
Zwanzig Jahre später bietet sich rund um das Tal ein ganz anderer
Anblick. Eine erste Kleinstadt hat sich gebildet, im Umland befinden
sich schon erste Dörfer. Die Leute leben hauptsächlich von Ackerbau
und Viehzucht.
So gut wie jedes Kind wird mit besonderen Fähigkeiten geboren.
Jedenfalls mit dem, was man früher als „besondere Fähigkeiten“
bezeichnet hätte. Inzwischen ist nichts Ungewöhnliches mehr dabei,
wenn ein Kind den Schulweg kurzerhand fliegend zurücklegt oder mit
schnellen Sprüngen von Hausdach zu Hausdach. Auch körperliche
Extras wie Schildkrötenpanzer oder ein flammender Haarschopf sind
nicht weiter spannend.
Aufgeregtes Geflüster kommt nur auf, wenn jemand auftaucht, der
augenscheinlich keinerlei Superkräfte besitzt. Der normal über den
Bürgersteig flaniert und vielleicht einen Bierbauch hat. Dann weiß
ein jeder sofort: Das ist ein Nachfahre unseres alten Herrschers, der
unser Volk vor dem Aussterben bewahrt hat! Vor diesen Leuten bildet
sich eine Gasse, sie bekommen Geschenke gereicht, wohin auch immer
sie kommen und vereinzelt hört man Hochrufe.
Mittelmäßigkeit ist wohl zu einem geschätzten Privileg geworden!