Von Mr. Big
Hallo, mein
Name ist Michael. Heute ist der Tag, an dem ich sterbe. Absurd, ich weiß, aber
manchmal ist das Leben eben so. Dabei fing der Tag wie immer an. Früh morgens
klingelte mein Wecker und riss mich aus einem leichten Schlaf. Die letzten Schnipsel
eines Traumes fegten noch durch meinen Kopf. So kam es, dass ich just in dem
Moment bevor ich aufwachte, eine Silhouette sah. Die Fratze eines hasserfüllten
Gesichtes schaute mich an. Panisch machte ich die Augen auf und die Schnipsel
verflogen wie Blätter im Wind.
Als ich mich
an den Frühstückstisch setzte, stürzte sogleich meine Großmutter herbei, um
mich großzügig zu bedienen. Ich war den Sommer über zu ihr gezogen, weil ich
das Gefühl hatte, dass sie in den letzten Jahren immer einsamer geworden war. Ich
hatte beschlossen, sie für ein paar Tage zu besuchen und ihr Gesellschaft zu
leisten.
Ein riesiger
Teller voller Pancakes stand nun vor mir auf dem Tisch. „Na mein Kleiner, hast
du schlecht geschlafen? Du siehst so blass aus?“
„Es ist nichts,
Oma“, antwortete ich. „Ich glaube, ich hatte einen Albtraum.“ Sie fing an zu lachen. „Ein Junge in deinem
Alter sollte sich von Albträumen nicht so mitnehmen lassen. Iss erstmal, damit
du bei Kräften bleibst. Nicht das du mir vom Fleisch fällst.“
Das ist
witzig, denn ich bin fast zwei Meter groß und wiege 130 Kilo. Manche bezeichnen
mich als mollig, ich bevorzuge das Wort muskulös.
„Was hast du
heute noch vor?“, fragte sie mich.
„Mit Dorian
treffen, rumhängen, nichts weiter.“
„Aha, so, so,
na dann. Iss schnell auf und dann raus mit dir. Die Sonne scheint herrlich. Genieße
den letzten Sommertag, bald fängt der Ernst des Lebens an.“
Womit sie
nicht ganz Unrecht hat. Doch bevor ich in ein paar Tagen meine Ausbildung in
dieser kleinen verschlafenen Stadt beginnen sollte, hatte ich mir vorgenommen,
noch einmal so richtig einen Drauf zu machen. Zusammen mit meinem besten Freund
Dorian.
Dorian und ich, wir sind typische Jugendliche, so
typisch wie zwei Kerle in den USA halt sein können. Wir hängen gerne zusammen rum,
gucken Football oder trinken Bier. Doch heute wollten wir feiern. Wir haben den
High-School-Abschluss in der Tasche! An
einem heißen, schwülen Tag wie diesen, gibt es einfach nichts besseres, als mit
dem Auto raus an den Mississippi zu fahren und einfach die Seele baumeln zu
lassen.
„Hey, lass
uns noch schnell bei diesem Shop vorbeigehen, ein paar Zigarillos holen“, sagte
ich. „Kein Problem.“ meinte Dorian. „Meiner
Alter will mir eh erst Nachmittag das Auto geben.“
Wenig später
gingen wir rauchend die leeren Straßen der Kleinstadt entlang, ohne so recht
darauf zu achten, was wir taten. Wir waren beschwipst vom Gefühl des großen
Abenteuers und dem was vor uns lag.
Ein
Streifenwagen tauchte neben uns auf. Es war das einzige Auto weit und breit.
„Hey, wieso
lauft ihr nicht auf dem Fußgängerweg?“ fuhr uns ein weißer Polizist an.
Dorian und
mir war das herzlich egal, schließlich war weit und breit kein weiteres Auto zu
sehen. Ich beachtete ihn nicht weiter. Als Schwarzer in Amerika ist man es
gewöhnt, von der Polizei angefaucht zu werden. Irgendetwas gibt es immer.
Der Cop ließ
nicht locker „Hey, was ist falsch mit euch?“, rief er uns zu.
Was für ein
Arsch. Ich war eigentlich nicht auf Stress aus, aber irgendwas an diesem Typen
passte mir gewaltig nicht. Irgendwas in seinem Blick war…abwertend.
Er schaute
auf den Zigarillo in meiner Hand. „Habt ihr die geklaut? Komm mal ran hier, na
mach schon!“
Na gut,
dachte ich mir, aber heute spielen wir nach meine Regeln. Ich stellte mein Bein
in dem Moment vor seine Tür, als er gerade aussteigen wollte. Plötzlich war er hilflos
in seinem Wagen gefangen.
„GEH VERDAMMT NOCHMAL VON DER TÜR WEG!“
„Ich denk
nicht dran.“ Sagte ich und lehnte mich in seinen Wagen.
Ein Gerangel
entstand. Der Kerl hielt mich an meinem Arm fest und beschimpfte mich mit
allem, was er hatte. Ich merkte schnell, dass es wohl eine dumme Idee gewesen war,
diesen Cop zu reizen und wollte abhauen, aber er hielt mich fest. Ich stieß ihn
zurück. Er schrie mich an.
Dann fiel ein
Schuss.
Was war bloß geschehen?
Ich schaute
herab und sah, wo mich der Schuss gestreift hatte. Ein brennender Schmerz
breitete sich an meiner Seite aus. Panik erfasste mich. Aus der Panik wurde
Angst, die pure Angst ums Überleben.
Ich musste
weg, weg, einfach nur weg von diesem Cop, diesem Auto. Wo ist Dorian, fragte
ich mich. Ich rannte und rannte, aber es war zu spät. Da hörte ich bereits
seine Stimme sagen. „Auf den Boden! AUF DEN BODEN!“
Mir wurde
schwindelig, ich war in einer Trance zwischen Schock und Schmerz gefangen und
merkte, wie das Leben leise aus mir herausfloss. Ich konnte weder vor noch
zurück. Ich war in der Falle. Es blieb nur eine Chance, lebend aus dieser Sache
herauszukommen. Ich drehte mich langsam um und war dabei die Hände
hochzunehmen, als ich in sein Gesicht sah und dachte: Oh mein Gott. Ich kenne
dieses Gesicht.
Das letzte,
was ich sah, war der Abzug, der nach hinten gedrückt wurde. Ich erinnere mich
noch gut an die letzte Sekunde auf dieser Erde, denn sie dehnte sich zu einer
Unendlichkeit aus. Mein ganzes Leben zog an mir vorbei. Meine Eltern, Freunde, meine
Kindheit, meine Schulzeit, Dorian…sie alle waren Teile eines unendlichen
Moments, bevor die Lichter ausgingen und ich in ein tiefes, bodenloses Loch
stürzte.
Eilmeldung
Am Dienstag haben die Geschworenen in
den USA entschieden, dass der Polizist Darren Wilson, der den schwarzen
Teenager Michael Brown erschoss, nicht wegen Mordes angeklagt wird. Später sagte
der Polizist in einem Interview, er habe seinen Job richtig gemacht und würde
wieder so handeln.
Am Ende wird
alles gut, hat meine Oma immer gesagt. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es
nicht das Ende.
Ich höre auf
zu fallen. Die Schwärze wird zu einem dunklen Grau, wird heller und heller bis
die weiße Unendlichkeit sich vor mir ausbreitet.