Von Mr. Big
I
Inseln über dem Winde,
Atlantischer Ozean (Karibik)
Der
Wind strich sanft über die steinigen Klippen der Insel. Das leichte Rascheln der
Lianen erfüllte den Dschungel mit seiner eigenen Dynamik. Weit unterhalb der
Klippen war ein Pfad zu sehen. Er verband die zwei größten Dörfer der Insel miteinander.
Hier im Nirgendwo gab es zwei Dinge zu Genüge: Die Ruhe und die Natur.
Auf
einem hohen Tropenbaum, hoch über den Klippen, saß ein Vogel, den Blick auf die
Wellen gerichtet, die langsam gegen den Strand treiben. Von hier oben konnte
der Trupial einen Großteil der Nordseite der Insel einsehen. Im Dickicht war er
verborgen, verborgen vor allzu neugierigen Blicken der Raubvögel und hoch
genug, um außer Gefahr von menschlichen Jägern zu sein.
Ein
lautes Rascheln ertönte aus dem Dschungel. Emsig richtete der Trupial seinen
Blick ins Gebüsch. Etwas näherte sich ihm, aber es war noch weit, weit
entfernt. Seine Onyx-Augen fixierten für einen kurzen Moment die langen
Palmenblätter und Lianen, die sich rhythmisch im Wind bewegen. Der Urwald auf
der Insel war so dicht, dass eine ganze Horde hier verborgen bleiben könnte,
ohne aufzufallen. Auch wenn Teile der idyllischen Landschaft von Menschen
bereits erschlossen waren, so hatte hier die Natur noch immer Oberhand. Hier, auf
diesem Baum hoch oben über den Klippen, mit den Ästen gen Meer gerichtet, gab
es nichts, was darauf hinwies, dass schon jemals Menschen an dieser Stelle gewesen
waren.
Die
Wellen brandeten gegen die steinigen Klippen. In der Mittagshitze brannte die
Sonne den Federn des Tiers, das einer Robe aus feinen orange-gelben Fasern glich.
Ein Rascheln war aus dem Gebüsch zu vernehmen. Der Trupial spürte die Gefahr. Mit
einem Satz schwang er sich nach oben, nur um im nächsten Moment mit
übernatürlicher Kraft zurückgezogen zu werden. Es war zu spät. Die Falle war
zugeschnappt.
Dicke
Seile umschlangen ihn und zogen ihn in die Tiefe, weiter und weiter. Der Himmel
verschwand aus dem Sichtfeld, der steinige Boden kam bedenklich nahe. Dann wurde
er herumgewirbelt, orientierungslos und hilflos hing er in der Luft, gefangen
von dickem Garn, aus dem es kein Entkommen gab.
Ein
Flüstern durchschnitt die Stille.
„Ich
hab dich.“
Behutsam
zog Mansu das Netz zurück. Freudig trampelte er mit seinen nackten Füßen auf
dem schweren Ast des Tropenbaumes. Ein Schwarm Vögel erhob sich aus der Krone und
flatterte davon. Doch das war ihm egal. Er hatte sein Exemplar gefangen. Mit
einem Satz schlang er die Beine um den Ast. Unter ihm, in zwanzig Metern Tiefe,
strich eine leichte Gischt aus Wasser über die Felsen. Hätte er den Halt
verloren, so wäre er wie eine Melone auf dem Gestein zerschellt. Doch er verlor
nie den Halt. Mansu war in diesen Wäldern aufgewachsen, kannte die Bäume wie
seinen eigene Westentasche, kannte die Tücken, denen man sich aussetzte, wenn
man die Lianen benutzte, gebrechliche Äste erwischte und dergleichen. Seit über
zwanzig Sommern war er nun schon ein Kind des Dschungels, und sein Geschick
hatte ihn noch nie enttäuscht.
Das
Netz baumelte lässig zwischen seinen Beinen. Er begann, es langsam an sich
heranzuziehen. Der Gefangene schlug voller Todesangst um sich, hackte, kratzte,
versuchte irgendwie dem drohenden Schicksal zu entrinnen. Seine schwarzen Augen
zuckten voller Panik hin und her, suchten eine Lücke, fanden sie nicht. Mansu
griff nach seinem Beutel. Es gehörte zu den wenigen Utensilien, die er bei sich
trug. Ein Großteil seines Oberkörpers war von grauem Schlamm überzogen. Auf
seiner Brust waren Streifen in brauner Farbe zu erkennen. Diese kühlende
Schicht schützte ihn vor der Sonneneinstrahlung und sorgte dafür, dass seine
Haut nicht austrocknete. Unterhalb des Bauches trug er einen Lendenschutz, der aus
Lumpen und Blättern bestand. Er war eng anliegend und gab ihm die nötige
Flexibilität fürs Klettern. An Handgelenk, Hals und Fußknöchel glitzerten
kleine Perlen in dunklen Farben, die durch biegsames Wildgras befestigt waren.
Mansu
zog sein Messer hervor.
„Komm
schon, nun hab dich nicht so.“ redete er auf das Tier ein. Im Sonnenlicht war kaum
mehr zu erkennen, aus welchem Material die Klinge war. Das glasig-schwarze
Metall war an den meisten Stellen mit grauen Furchen überzogen. Langsam bewegte
er seine Hand in Richtung des Netzes.
Der
Vogel wand sich hilflos in seinem Elend. Das Einzige, was ihm noch blieb, war
ein letztes Stoßgebet zum Vogelgott zu senden. Das Messer fuhr hernieder und
grub sich in die Rinde des Baumes.
Mansu
begann zu pfeifen. Plötzlich erstarrte das Tier und beäugte argwöhnisch seinen
Peiniger. Der Klang eines Artgenossens drang in seine Ohren. Dennoch war ihm
dieses Wesen fremd, was da mit der schwarzen Klinge saß und begann, Rinde aus
dem Baum zu schälen. Mansu wusste um die Qualitäten dieses Tropenholz, das biegsame
Holz eignete sich perfekt zum Verarbeiten. Im Handumdrehen hatte er einen kleinen
Ring hergestellt, auf dem zwei Zeichen eingeritzt waren. Ihre uralte Bedeutung
war nur noch wenigen bekannt.
Die
Schrift stammte noch aus der Zeit vor der Besiedlung der Insel durch die „Weißen“,
wie er sie nannte. Vor ca. 100 Jahren waren sie gekommen, brachten ihre eigene
Kultur und Sprache mit und verdrängten nach und nach die Alteingesessenen, die
Einheimischen der Insel, deren Sprache [
Ðælon ] gewesen war. Nicht mehr als ein paar tausend Sprecher
waren in ihre Geheimnisse eingeweiht. Und da die fortschrittlichen Kolonialisten sich nicht die
Mühe gemacht hatte, sie zu erlernen, hatten sie sie nach und nach abgeschafft. Erst
mit ihren eigenen Sprache, dann mit Erziehung, später mit Gewalt.
Mansu
griff erneut in seinem Beutel und schob den Ring zwischen die Finger. Mit einer filigranen Bewegung glitten seine Hände ins
Netz. Im nächsten Moment hatte er den Vogel gepackt, stecke ihm einen Korn in
den aufgerissenen Schnabel und befestige sogleich den Ring an seinem Fuß.
Verblüfft,
fast schon skeptisch starrte in der Trupial an. Mit einem leichten Ruck öffnete
er wieder das Netz. Das Tier sah seine Chance gekommen und flog hinaus, nur um
sich im nächsten Moment auf einem naheliegenden Ast niederzulassen. Der
hölzerne Ring war deutlich an seinem Fuß zu erkennen.
„Willst
du mehr?“
Er
schnippte ein Korn aus seiner Hand. Es segelte hoch. Einen Moment später schoss
der Vogel hervor und verspeiste es. Mansu begann wieder zu pfeifen. Es war eine
komplexe Abfolge an Tönen, die nur sehr wenige Menschen beherrschten. Einzelne
Artgenossen lösten sich aus den Kronen der umliegenden Bäume und versammelten
sich um ihn. Sie alle trugen einen Ring um die Beine und waren mit der Zeit von
ihm gezähmt wurden. Zufrieden lehnte sich Mansu zurück und ließ die
Sonnenstrahlen über sein Gesicht tanzen.
Fortsetzung folgt...
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