MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Montag, 27. Juli 2015

Ein Leben zu zweit

Ich kenne dich schon so lange. Viele Jahre stehe ich dir bereits zur Seite, fast ein ganzes Leben, doch du bemerkst mich nicht. Als Kind bist du über das Brückengeländer balanciert, hoch über dem Fluss. Unten rauschte das Wasser zwischen den Steinen. Groß und spitz standen sie aus dem Flussbett hervor, das sichere Verderben für jeden, der etwa auf dem blanken Brückengeländer ausgleiten und hinunterfallen würde. Dort unten wartete ich. Nicht, um dich aufzufangen, das hätte ich nicht gekonnt, sondern um bei dir zu sein. Du aber bliebst oben.
Später, in den langen durchwachten Nächten deiner Jugend, saß ich immer mit dir und den anderen auf der Mauer bei den alten, verfallenen Industrieanlagen. Es wurde getrunken und geraucht, dann kam jemand auf die Idee, die alte Werkhalle zu erkunden. Durch ein zersplittertes Fenster sind wir hineingelangt. In der Decke klaffte ein riesiges Loch. Alle wussten, dass die Sache riskant war. Immer wieder versicherten sich alle mit nervösen Blicken der beruhigenden Anwesenheit der anderen. Manchmal stand ich direkt vor dir. Und doch hast du mich nicht gesehen.
Warum ignorierst du mich? Ich will dir doch nichts Böses, bin immer bei dir, wie gefährlich es auch wird. Hast du tatsächlich solche Angst vor mir? Kommt es dir so bedrohlich vor, endlich mit mir zu kommen, alles andere hinter dir zu lassen und aufzubrechen in ein neues Leben, eine neue Welt? Warum versteckst du dich, wendest deinen Blick ab von mir und weigerst dich, anzuerkennen, dass du mein bist, wenn nicht jetzt, dann irgendwann?
Mit 25 hattest du einen schweren Unfall. Da waren wir uns am nächsten. Ich war als erstes bei dir, nachdem der Sportwagen dich in den Straßengraben geschleudert hatte. Von dem Moment an wich ich nicht von deiner Seite. Ich war bei dir im Krankenwagen, der mit Sirenengeheul durch die Straßen raste, begleitete dich sogar in die OP, wo sich die Ärzte in fieberhafter Eile daran machten, dich noch einmal ins Leben zurückzuholen. Später saß ich an deinem Bett, Tag und Nacht, und hoffte, dass es nun endlich so weit wäre. Doch als du endlich wieder entlassen wurdest, gingst du mit jemand anderem weg, ohne mir auch nur einen Blick zu gönnen.
Du hieltest Hochzeit. Ein großes Fest rund um den kugelrunden Bauch einer Schwangeren. Drei Wochen später war es bereits soweit. Ich war nicht dabei, als deine Tochter auf die Welt kam. Nie war ich dir ferner.
Ich weiß, dass es nicht anders sein kann. Du bist noch nicht so weit, bist nicht bereit, endlich mit mir zu kommen. Ich darf nicht ungeduldig werden, muss warten, bis die richtige Zeit gekommen ist. Es ist nicht einfach für mich, doch ich weiß, dass es richtig ist. Und selbst wenn ich wollte, könnte ich denn etwas ändern? Ich bin, der auf dich wartet. Und der dich letztendlich mit offenen Armen empfängt.
Einmal noch waren wir uns sehr nah. Das war, als dein Mann dich verlassen hatte. Du warst deprimiert und ziellos. Dein Leben schien keinen Sinn mehr zu machen. Ganze Abende lang saßest du mit einer Flasche Rotwein am Küchentisch und starrtest aus dem Fenster in die Dunkelheit der beginnenden Nacht. Am Ende des Abends war die Flasche leer. Es waren diese Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass du zumindest einen Schimmer von mir erkennen kannst. Manchmal schienst du ein wenig in meine Richtung zu blinzeln, denn natürlich saß ich den ganzen Abend über mit dir am Küchentisch, und ich hoffte bereits, dass nun endlich der Moment gekommen sei, aber dann kam deine dreijährige Tochter durch die Tür getapst und wollte in den Schlaf gesungen werden und das Aufleuchten in deinen Augen zeigte mir deutlich, dass du wieder nicht mit mir kommen würdest. Nicht dieses Mal.
Danach zog ich mich ein wenig zurück. Du begannst mit dem Schreiben, um deine Gefühle der Hilflosigkeit und Verstoßenheit aufzuarbeiten, lerntest einen neuen Mann kennen und bekamst zwei weitere Kinder. Ich blieb weiter in deiner Nähe, beobachtete dich von der nächsten Straßenecke, wenn du das Haus verließest, aber ich kam dir nicht mehr zu nah. Du wurdest alt, eine alte Schönheit und hattest – zwischen vielen Falten – stets ein Lächeln im Gesicht. Enkel besuchten dich und ich sah, wie du mit ihnen spazieren gingst. Du schienst sehr glücklich zu sein.
Als dein Mann starb, war ich nicht bei dir. Ich war bei ihm und sah ihn entschwinden. Ich wollte sehen, wie es ist, wollte vorbereitet sein.
Du lebtest noch einige Jahre. Ab und zu bekamst du Besuch von deinen Kindern, aber die meiste Zeit warst du allein. Nur ich war jetzt wieder ganz nah bei dir.

Und jetzt liegst du schließlich hier in diesem dunklen Raum. Die Einrichtung ist karg. Es ist kein Zimmer, in dem man lange wohnen soll. Dein Atem geht schwer. Schleppend, fast keuchend. Dann steht er plötzlich still. Dein Herz hört auf zu schlagen. Und du siehst mich an. Siehst mir voll ins Gesicht und lächelst.
„Ist es endlich soweit?“ fragst du mit brüchiger Stimme. Ich lächele ebenfalls.
„Weißt du, wer ich bin?“
„Natürlich. Ich habe dich schon lange erwartet.“
„Nicht so lange, wie ich dich“ sage ich und strecke dir meine Hand entgegen. „Komm mit.“

Du ergreifst meine Hand. Meine Fingerknochen klappern aneinander, als du sie drückst und dich von deinem Lager erhebst. Ich lege dir meinen langen Mantel um die Schultern und eng aneinandergeschmiegt machen wir uns auf unsere lange Reise.