Ich kenne dich schon so
lange. Viele Jahre stehe ich dir bereits zur Seite, fast ein ganzes
Leben, doch du bemerkst mich nicht. Als Kind bist du über das
Brückengeländer balanciert, hoch über dem Fluss. Unten rauschte
das Wasser zwischen den Steinen. Groß und spitz standen sie aus dem
Flussbett hervor, das sichere Verderben für jeden, der etwa auf dem
blanken Brückengeländer ausgleiten und hinunterfallen würde. Dort
unten wartete ich. Nicht, um dich aufzufangen, das hätte ich nicht
gekonnt, sondern um bei dir zu sein. Du aber bliebst oben.
Später, in den langen
durchwachten Nächten deiner Jugend, saß ich immer mit dir und den
anderen auf der Mauer bei den alten, verfallenen Industrieanlagen. Es
wurde getrunken und geraucht, dann kam jemand auf die Idee, die alte
Werkhalle zu erkunden. Durch ein zersplittertes Fenster sind wir
hineingelangt. In der Decke klaffte ein riesiges Loch. Alle wussten,
dass die Sache riskant war. Immer wieder versicherten sich alle mit
nervösen Blicken der beruhigenden Anwesenheit der anderen. Manchmal
stand ich direkt vor dir. Und doch hast du mich nicht gesehen.
Warum ignorierst du mich?
Ich will dir doch nichts Böses, bin immer bei dir, wie gefährlich
es auch wird. Hast du tatsächlich solche Angst vor mir? Kommt es dir
so bedrohlich vor, endlich mit mir zu kommen, alles andere hinter dir
zu lassen und aufzubrechen in ein neues Leben, eine neue Welt? Warum
versteckst du dich, wendest deinen Blick ab von mir und weigerst
dich, anzuerkennen, dass du mein bist, wenn nicht jetzt, dann
irgendwann?
Mit 25 hattest du einen
schweren Unfall. Da waren wir uns am nächsten. Ich war als erstes
bei dir, nachdem der Sportwagen dich in den Straßengraben
geschleudert hatte. Von dem Moment an wich ich nicht von deiner
Seite. Ich war bei dir im Krankenwagen, der mit Sirenengeheul durch
die Straßen raste, begleitete dich sogar in die OP, wo sich die
Ärzte in fieberhafter Eile daran machten, dich noch einmal ins Leben
zurückzuholen. Später saß ich an deinem Bett, Tag und Nacht, und
hoffte, dass es nun endlich so weit wäre. Doch als du endlich wieder
entlassen wurdest, gingst du mit jemand anderem weg, ohne mir auch
nur einen Blick zu gönnen.
Du hieltest Hochzeit. Ein
großes Fest rund um den kugelrunden Bauch einer Schwangeren. Drei
Wochen später war es bereits soweit. Ich war nicht dabei, als deine
Tochter auf die Welt kam. Nie war ich dir ferner.
Ich weiß, dass es nicht
anders sein kann. Du bist noch nicht so weit, bist nicht bereit,
endlich mit mir zu kommen. Ich darf nicht ungeduldig werden, muss
warten, bis die richtige Zeit gekommen ist. Es ist nicht einfach für
mich, doch ich weiß, dass es richtig ist. Und selbst wenn ich
wollte, könnte ich denn etwas ändern? Ich bin, der auf dich wartet.
Und der dich letztendlich mit offenen Armen empfängt.
Einmal noch waren wir uns
sehr nah. Das war, als dein Mann dich verlassen hatte. Du warst
deprimiert und ziellos. Dein Leben schien keinen Sinn mehr zu machen.
Ganze Abende lang saßest du mit einer Flasche Rotwein am Küchentisch
und starrtest aus dem Fenster in die Dunkelheit der beginnenden
Nacht. Am Ende des Abends war die Flasche leer. Es waren diese
Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass du zumindest einen
Schimmer von mir erkennen kannst. Manchmal schienst du ein wenig in
meine Richtung zu blinzeln, denn natürlich saß ich den ganzen Abend
über mit dir am Küchentisch, und ich hoffte bereits, dass nun
endlich der Moment gekommen sei, aber dann kam deine dreijährige
Tochter durch die Tür getapst und wollte in den Schlaf gesungen
werden und das Aufleuchten in deinen Augen zeigte mir deutlich, dass
du wieder nicht mit mir kommen würdest. Nicht dieses Mal.
Danach zog ich mich ein
wenig zurück. Du begannst mit dem Schreiben, um deine Gefühle der
Hilflosigkeit und Verstoßenheit aufzuarbeiten, lerntest einen neuen
Mann kennen und bekamst zwei weitere Kinder. Ich blieb weiter in
deiner Nähe, beobachtete dich von der nächsten Straßenecke, wenn
du das Haus verließest, aber ich kam dir nicht mehr zu nah. Du
wurdest alt, eine alte Schönheit und hattest – zwischen vielen
Falten – stets ein Lächeln im Gesicht. Enkel besuchten dich und
ich sah, wie du mit ihnen spazieren gingst. Du schienst sehr
glücklich zu sein.
Als dein Mann starb, war
ich nicht bei dir. Ich war bei ihm und sah ihn entschwinden. Ich
wollte sehen, wie es ist, wollte vorbereitet sein.
Du lebtest noch einige
Jahre. Ab und zu bekamst du Besuch von deinen Kindern, aber die
meiste Zeit warst du allein. Nur ich war jetzt wieder ganz nah bei
dir.
Und jetzt liegst du
schließlich hier in diesem dunklen Raum. Die Einrichtung ist karg.
Es ist kein Zimmer, in dem man lange wohnen soll. Dein Atem geht
schwer. Schleppend, fast keuchend. Dann steht er plötzlich still.
Dein Herz hört auf zu schlagen. Und du siehst mich an. Siehst mir
voll ins Gesicht und lächelst.
„Ist es endlich
soweit?“ fragst du mit brüchiger Stimme. Ich lächele ebenfalls.
„Weißt du, wer ich
bin?“
„Natürlich. Ich habe
dich schon lange erwartet.“
„Nicht so lange, wie
ich dich“ sage ich und strecke dir meine Hand entgegen. „Komm
mit.“
Du ergreifst meine Hand.
Meine Fingerknochen klappern aneinander, als du sie drückst und dich
von deinem Lager erhebst. Ich lege dir meinen langen Mantel um die
Schultern und eng aneinandergeschmiegt machen wir uns auf unsere
lange Reise.